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Parteien streiten ums deutsche Wahlrecht

29. September 2011

Im Bundestag wird über ein neues Wahlrecht abgestimmt. Das geltende Recht wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt. Doch auch die geplante Reform ist heftig umstritten.

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Plenarsaal des Deutschen Bundestages (Foto: dpa)
Um die Sitze im Bundestag wird von den Parteien hart gerungenBild: picture alliance/dpa

Sollte es heute in Deutschland zu Neuwahlen kommen, stünde das Land vor einem rechtlichen Problem: Das Bundesverfassungsgericht, das höchste Gericht in Deutschland, hat 2008 das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt - derzeit gibt es also keine rechtliche Grundlage für Wahlen. Die Richter, die in Karlsruhe zusammenkommen, hatten für die Gesetzesänderung eine Frist bis zum 30. Juni gesetzt. Wegen Differenzen in der Regierungskoalition wurde diese allerdings verfehlt. Am Donnerstagnachmittag (29.09.2011) soll darüber abgestimmt werden.

Das deutsche Wahlrecht, das nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, ist äußerst kompliziert: Denn Wähler können zwei Stimmen abgeben. Eine Stimme, auch Erststimme genannt, geht an einzelne Kandidaten eines Wahlbezirks, diese werden also direkt von einer Liste gewählt. Mit der Zweitstimme wird dahingegen eine Partei gewählt. In dem Fall, dass eine Partei mehr Direktkandidaten über die Erststimme, als Stimmen über die Zweitstimme erhält, spricht man von Überhangsmandaten, also extra Sitzen im Bundestag. Das heißt konkret: Die Partei hat mehr Sitze im Bundestag als ihr rein rechnerisch laut Zweistimme zustehen. Dieses Wahlrecht bevorzugt vor allem große Parteien, da sie meist mehr Direktkandidaten aufstellen.

Wahlen auf Länderebene werden bundesweit ausgewertet

Eine Frau wirft in einem Wahllokal ihren Stimmzettel in eine Wahlurne (Archivfoto: dpa)
Die Debatte um die Wahlreform mag theoretisch klingen - doch es geht um MachtBild: picture alliance / dpa

Ein weiteres Phänomen bereitete den Richtern in Karlsruhe Bedenken, das sogenannte negative Stimmgewicht. In Deutschland wird über Landeslisten gewählt, soll heißen, jedes Bundesland hat seine eigene Liste mit Direktkandidaten und Parteien, so steht etwa die CSU nur auf der Liste im Bundesstaat Bayern. Diese Listen werden auf Bundesebene, also deutschlandweit, zusammengezählt. Es kann vorkommen, dass eine Partei bundesweit mehr Stimmen durch die Direktkandidaten der Erststimmen erhält, als ihr rechnerisch durch die Zweitstimmen zustehen. Eine Partei, die in einem Bundesland Überhangsmandate erhalten hat, kann in einem anderen Land ohne Überhangssitze einen Sitz verliert. Und das, obwohl ihr Zweitstimmenanteil deutschlandweit insgesamt gestiegen ist.

Dieses Phänomen stellte sich 2005 ein, als in Dresden Nachwahlen stattfanden. Dieser Effekt soll nun vermieden werden: Nach Plänen der Koalition soll jedes Bundesland separat seine Volksvertreter für den Bundestag wählen. Die Stimmen sollen also nicht mehr bundesweit zwischen den Ländern verrechnet werden. Ausschlaggebend für die Anzahl der Mandate, also Sitze im Bundestag, aus einem Land soll unter anderem die Wahlbeteiligung sein. Überhangsmandate soll es weiter geben. Zusätzlich sieht der aktuelle Vorschlag vor, dass die Reststimmen, die also nicht für ein Mandat ausreichen, bundesweit verrechnet werden.

Entwurf „verfassungswidrig“

Thomas Oppermann, der SPD-Geschäftsführer (Foto: dpa)
SPD-Politiker Oppermann hält die geplante Reform für verfassungswidrigBild: picture-alliance/dpa

Die Debatte mag sehr theoretisch klingen, doch geht es dabei um Macht: die Anzahl der Sitze im Bundestag. Denn die Anzahl der Mandate bestimmt, welche Parteien die Mehrheit bilden, die Regierung stellen und Gesetze verabschieden – oder blockieren können. Deshalb wird der Entwurf heftig diskutiert: SPD, Linke und Grüne, die die Opposition stellen, werfen der Koalition vor, dass der neue Gesetzentwurf verfassungswidrig sei. "Handwerklich schlecht gemacht", kritisierte Thomas Oppermann, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag. Und so haben SPD und Grüne ihre eigenen Entwürfe eingebracht.

Auch der frühere Präsident der Berliner Humboldt-Universität Hans Meyer hält den Entwurf für verfassungswidrig. Besonders problematisch findet er, dass der aktuelle Entwurf an den Überhangsmandaten festhält. Denn die Verfassungsrichter in Karlsruhe hätten in einem früheren Urteil darauf hingewiesen, dass diese eben gerade nicht "regelmäßig" in größerer Zahl anfallen dürften. Dies sei aber zunehmend der Fall.

SPD und Grüne haben bereits angekündigt, erneut vor dem Verfassungsgericht zu klagen. Sollte es aber zu Neuwahlen vor der Reform des Wahlrechts kommen, würde das Verfassungsgericht notfalls selbst durchgreifen. "Wir würden im Rahmen einer einstweiligen Anordnung versuchen, eine solche verfassungsgemäße Grundlage für eine Wahl zu schaffen", sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle kürzlich dem Nachrichtensender ZDF.

Autorin: Naomi Conrad (afp, dapd, dpa)
Redaktion: Martin Schrader