1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Pattsituation vor den Wahlen in Tschechien

10. Juni 2002

– Keine klare Mehrheit in Sicht

https://p.dw.com/p/2P7j

Prag, 7.6.2002, RADIO PRAG, deutsch, Robert Schuster

(...) Für unsere erste Wahl-Sondersendung haben wir uns mit Petr Fischer, dem Chefkommentator der Tageszeitung "Lidove noviny" und seinem Kollegen Petr Uhl von der linksliberalen Zeitung "Pravo" unterhalten. Als erstes wollten wir von den beiden Journalisten wissen, wie sie den bisherigen Verlauf des tschechischen Wahlkampfes bewerten und ob es irgendwelche Unterschiede zu früheren Jahren gibt.

Petr Uhl von "Pravo" meint dazu im folgenden: "Meiner Meinung nach ist die Situation sehr ähnlich: dieses Patt, in welchem sich die tschechische Gesellschaft jetzt befindet. (...) Ungefähr eine Hälfte der Stimmen für die Sozialdemokratie und die andere für die demokratische Rechte. Aber was ganz neu ist: das ist Nationalismus und Xenophobie. Das gab es vor vier Jahren nicht. Heute kommen die Parteien mit populistischen Lösungen gegen Ausländer, gegen Deutsche, gegen Roma. Und natürlich für die Benes-Dekrete. Diese deutsche Karte ist eine Wahlkarte geworden."

Petr Fischer von der "Lidove noviny" glaubt hingegen, dass wirklich große Themen diesmal fehlten, oder die Politiker wirklich großen Konfrontationen absichtlich aus dem Weg gingen (...): "Ich glaube, die Wahlkampagne war nicht besonders markant. Es fehlte ein großes Thema. In der vorigen Wahlkampagne war es der Kampf gegen den Sozialismus, dieses Thema gehört schon der Vergangenheit an. Auch der Beitritt zur EU ist kein großes Thema geworden. Die ODS hat die Präsentation mittels kurzer Wahlsprüche und -slogans gewählt und die anderen Parteien haben sich angepasst. Also im Ganzen ein bisschen teure Fadheit."

Wegen der von Petr Fischer erwähnten Inhaltsleere, die den diesjährigen Wahlkampf kennzeichnete, ist es also nicht überraschend, dass völlig unerwartete Wendungen und Ereignisse in der heimischen Politik einige Tage vor dem Wahltermin für großen Wirbel sorgen können. Zu so einem Ereignis gehört zweifelsohne der überraschende Rücktritt des durchaus populären Prager Oberbürgermeisters Jan Kasl, der vergangene Woche nicht nur sein Amt niederlegte, sondern auch gleich seine Partei, die rechtsliberale Demokratische Bürgerpartei (ODS) verlies und ihr somit ausgerechnet in deren traditionellen Hochburg Prag einen empfindlichen Dämpfer verpasste.

Petr Fischer von "Lidove noviny" hat diesbezüglich aus seiner Skepsis keinen Hehl gemacht, denn in seinen Augen sei der Wahlkampf bereits gelaufen: "Nein, eine große Überraschung oder sogar eine Bombe würde ich nicht mehr erwarten. Und auch der überraschende und für die ODS unglücklich anberaumte Rücktritt von Primator Kasl beeinflusst die Wahlergebnisse nicht. Überzeugte ODS-Sympathisanten fühlen sich noch mehr in der eigenen Wahrheit bestärkt und die anderen Wähler können noch mehr mit der ODS sympathisieren. Aber die Karten sind schon im Voraus vergeben. Die Sozialdemokraten gewinnen nach der Meinung von Soziologen eher die unentschlossenen Wähler." (...)

Eine der vielleicht interessantesten Fragen im Zusammenhang mit den diesjährigen Wahlen war jene nach den künftigen Regierungskonstellationen. Insbesondere wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass Präsident Vaclav Havel wahrscheinlich von seinem Recht Gebrauch machen wird, nicht unbedingt den Wahlgewinner mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Soll also Havel diesen Freiraum, den ihm die Verfassung zugesteht, aktiv nutzten?

Petr Uhl von der "Pravo" vertritt dabei eine ganz klare Position: "Meiner Meinung nach ist die Verfassung ganz klar: Es ist die Entscheidung des Präsidenten. Nirgendwo ist geschrieben, dass er den Wahlsieger als Ministerpräsidenten nominieren muss. Meiner Meinung nach - und Havel hat das schon mehrfach fast gesagt - wird das so sein, dass Havel Konsultationen führen wird. Und während dieser Konsultationen wird klar sein, ob zum Beispiel die Sozialdemokratie fähig sein wird, mit der Koalition eine Regierung zu bilden oder nicht. Oder ob eine Lösung die große Koalition ist: ODS und Sozialdemokraten."

Petr Fischer geht in seiner Einschätzung noch etwas weiter, wenn er im Folgenden einige der möglichen Koalitionsvarianten überlegt: "Es gibt zwei Möglichkeiten: Falls die Sozialdemokraten die Wahl gewinnen, beauftragt Präsident Havel mit der Regierungsbildung Vladimir Spidla (CSSD-Parteischef – MD). Aber bei einem Wahlsieg von Vaclav Klaus, kann Klaus nicht sicher sein. Die Sozialdemokraten haben relativ klar angedeutet, dass sie nicht mit der ODS zusammenarbeiten wollen. Also, falls die Koalition und die Sozialdemokraten zusammen die Stimmenmehrheit gewinnen, beauftragt Havel diese beiden Parteien trotz Klaus' Wahlsieg. Klaus kann aber auch noch einen anderen Trumpf ausspielen, und zwar seinen Abtritt. Und dann kann es möglich sein, dass die ODS die Regierung bildet." (...) (ykk)