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Der Nachhall des Sturms

Roxana Isabel Duerr7. November 2014

Ein Jahr nach Taifun "Haiyan" geht der Wiederaufbau auf den Philippinen nur schleppend voran, viele Betroffene haben weder ein Einkommen noch ein richtiges Zuhause.

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Ein kleiner Junge am Strand von Tanauan auf der Insel Leyte (Foto: Roxana Isabel Duerr)
Bild: DW/R. I. Duerr

"Der Lärm war unerträglich, es zischte und schepperte wie verrückt. Ich kauerte mich an die Betonwände der Toiletten und schlug die Arme über den Kopf. Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Position ausgeharrt habe. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit", erzählt José Babula mit leiser Stimme. Der 65-Jährige war allein in seinem Haus, als Supertaifun "Haiyan" über ihn hinwegfegte und weite Teile der Philippinen ins Unglück stürzte. Das Ausmaß der Zerstörung sah er nicht, aber er fühlte und hörte es. José Babula ist seit seiner Geburt blind.

Am 8. November 2013 erlebten die Philippinen den wohl stärksten Taifun, der je auf Land traf. Behörden rechnen damit, dass bei der Katastrophe mehr als 10.000 Menschen ums Leben kamen. Ein Jahr später geht der Wiederaufbau vielerorts nur schleppend voran, viele Menschen können das erlebte Desaster noch nicht verkraften. Die Armen sind noch ärmer geworden, viele Menschen haben weder Arbeit noch ein richtiges Dach über dem Kopf.

Die Armen noch ärmer

José Babula freut sich nun über seine neugebaute Neun-Quadratmeter-Baracke, die ihm eine lokale Hilfsorganisation gestiftet hat. Seine Heimatstadt Tacloban ist seit einigen Monaten wieder von den Trümmern auferstanden, neue Geschäfte und Restaurants haben eröffnet – es scheint soweit alles wieder seinen normalen Gang zu gehen. Aber das ist noch lange nicht überall der Fall. Vor allem in entlegenen, ländlichen Gebieten der betroffenen Inseln Leyte und Samar hat der Sturm die Armen noch ärmer gemacht. Reisfelder und Kokospalmen-Plantagen, die Lebensgrundlage vieler Menschen, wurden zerstört. Die am stärksten vom Taifun betroffenen Gebiete hatten bereits vor der Katastrophe einen hohen Anteil an landlosen Arbeitern und Pächtern. Diese Menschen haben nun weder ein Einkommen, noch ein richtiges Zuhause.

José Babulo in seiner neuen Holzbaracke (Foto: Roxana Isabel Duerr)
José Babulo verlor sein Zuhause durch den Taifun – mittlerweile hat er eine neue HolzbarackeBild: DW/R. I. Duerr

Kein permanentes Zuhause

Laut eines im Oktober erschienenen Berichts der philippinischen Regierung haben bisher lediglich 142 Haushalte in den vom Taifun betroffenen Regionen wieder ein permanentes Zuhause. Das sind weniger als ein Prozent der Betroffenen. Permanente Unterkünfte seien derzeit nicht die oberste Priorität – bevor die Menschen aus den Notunterkünften umgesiedelt werden, müsse zunächst die Infrastruktur neu gebaut werden, so die Erklärung der Regierung. Rund 250.000 Familien sind deshalb immer noch in Zeltlagern und Notunterkünften untergebracht, Nahrungsmittel fehlen und viele Gegenden haben nach wie vor keinen Anschluss an Strom und Wasser. Unter den derzeitigen Bedingungen vor Ort wären diese Menschen einem erneuten Taifun hilflos ausgesetzt.

Unklare Landrechte

Ein weiteres Hindernis für den Wiederaufbau permanenter Unterkünfte ist die unklare Landrechtslage auf den Philippinen. Die meisten Menschen bewohnen Land, das sie nicht rechtmäßig besitzen. Familie Solajes beispielsweise lebt seit Generationen in Anibong, einem Vorort von Tacloban. Der Sturm und ein an Land gespültes Frachtschiff haben ihr Haus komplett zerstört. Familienvater Ernesto Solajes, gelernter Zimmermann, hat nun an derselben Stelle wieder eine Hütte aus Holz und Wellblech für die 12-köpfige Familie gebaut. Das Land, das sie bewohnen soll einem reichen Geschäftsmann aus Manila gehören, aber so genau wissen sie es nicht.

Familie Solajez vor ihrer Hütte in Anibong (Foto: Roxana Isabel Duerr)
Auch die Hütte von Familie Solajez aus Anibong am Stadtrand von Tacloban wurde zerstört – Familienvater Ernesto baute an derselben Stelle eine neue Behausung aus Holz und Wellblech aufBild: DW/R. I. Duerr

Grundeigentümer sind auf den Philippinen meist Politiker, Geschäftsleute oder große Handelskonzerne. Die Regierung muss deshalb jeden Hektar Land für die Umsiedlung extra ankaufen. Vertreter der Hilfsorganisation Oxfam gaben kürzlich bekannt, dass die philippinische Regierung noch rund 1,067 Hektar anschaffen müsste, um den betroffenen Menschen überhaupt permanente Unterkünfte bieten zu können. Ernesto Solajes fühlt sich hilflos: "Zunächst hieß es, die Stadtregierung will uns in den Norden von Tacloban verlegen – aber wovon würden wir dort leben? Wir möchten hier in Küstennähe bleiben, zumindest können meine Söhne hier zum Fischen gehen."

Sind die Philippinen jetzt besser vorbereitet?

Keine Nation der Welt erlebt so viele tropische Stürme wie die Philippinen, der Inselstaat wird jährlich von rund 20 Taifunen heimgesucht. "Um im Falle einer Naturkatastrophe ein totales Desaster zu vermeiden, sind vor allem zwei Punkte wichtig: Erstens ein flächendeckendes Warnsystem und zweitens eine koordinierte Katastrophenreaktion", sagt Dr. Alfredo Lagmay. Er leitet das 2012 ins Leben gerufene Projekt "NOAH" ("Nationwide Operational Assessment of Hazards Programme") des philippinischen Ministeriums für Wissenschaft und Technik. Für die von Taifun "Haiyan" betroffenen Gebiete wurde die Sturmflutwarnung zwar bereits Tage vorher angekündigt. Die meisten Menschen gingen allerdings davon aus, dass sie in ihren eigenen vier Wänden am sichersten seien. Niemand rechnete damit, dass "Haiyan" sogar Betonbauten wie Pappe durch die Luft wirbeln und eine Tsunami-ähnliche Flutwelle über die Region hinwegbrechen könnte.

Grüne Bäume in Palo auf der Insel Leyte (Foto: Roxana Isabel Duerr)
Die Natur erholt sich – doch der nächste Taifun kommt bestimmt: In keinem anderen Land der Welt gibt es so viele tropische Wirbelstürme wie auf den PhilippinenBild: DW/R. I. Duerr

Sind die Philippinen jetzt, ein Jahr nach "Haiyan", besser auf einen erneuten Sturm dieser Kategorie vorbereitet? "Auf Dorfebene muss unbedingt die Gefahreneinschätzung nachhaltig trainiert werden, um solche Naturkatastrophen besser bewältigen zu können. Das ist auch ein gesetzlich verankertes Prinzip, aber die Umsetzung lässt noch zu Wünschen übrig." Bis Januar 2015 planen Dr. Lagmay und sein Team die Fertigstellung von Gefahrenkarten für Sturmfluten – sie sollen der Bevölkerung im Falle eines Taifuns Auskunft über geschützte Orte geben.

Seelische Wunden

Während die meisten Trümmer beseitigt sind, hat "Haiyan" bei den Überlebenden tiefe seelische Wunden hinterlassen. Der Nachhall des Sturms ist noch allerorts spürbar. Insbesondere Kinder können das erlebte Trauma meist nur schwer verarbeiten. Wie tief der Schock überall noch sitzt, fällt bei einem Besuch in San Roque auf. Die Grundschule des Dorfes auf der Insel Leyte wurde durch "Haiyan" dem Erdboden gleichgemacht, Hunderte starben, vor allem Kinder. Wenige Wochen nach der Katastrophe hat das Kinderhilfswerk UNICEF dort ein Notlager eingerichtet, in dem die 6- bis 12-Jährigen unterrichtet werden.

Kinder in der San Roque Grundschule im UNICEF-Notlager (Foto: Roxana Isabel Duerr)
Wenige Wochen nach der Katastrophe errichtete das UN-Kinderhilfswerk UNICEF in San Roque auf der Insel Leyte ein Notlager – inklusive einer provisorischen GrundschuleBild: DW/R. I. Duerr

Während der Mittagspause tollen die Schüler auf den noch herumliegenden Trümmern herum, die Lehrerinnen spielen Gitarre und singen. Auf einmal ertönen Schreie, die Kinder stürmen in alle Richtungen, Panik macht sich breit. Der Grund: Ein kurzer Aufwind hatte Sand in die Luft gewirbelt. Eine lokale Hilfsarbeiterin des Roten Kreuzes bemerkt daraufhin: "Wiederaufbau ist eben nicht nur physische Arbeit – es bedeutet auch, Traumata zu behandeln. Die psychische Verfassung der Betroffenen ist die große Unbekannte der Katastrophe "Haiyan" – und ohne psychosoziale Hilfe für die Überlebenden wird es noch viel länger dauern, bis die Region sich von diesem Schock erholt hat."