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Glocken, Bier und viel Kultur

Suzanne Cords17. Januar 2015

Den Namen Pilsen verbinden die meisten nur mit dem berühmten Bier. Doch die viertgrößte Metropole Tschechiens hat weit mehr zu bieten. Als frischgekürte Kulturhauptstadt will sie das jetzt der Welt beweisen.

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Pilsen Neues Theater
Das Neue Theater in Pilsen eröffnete vor wenigen MonatenBild: Nove divadlo

Für Johannes Nepomuk, Maria and Hroznata ist der 17. Januar ein ganz besonderer Tag: Hinter diesen Namen verbergen sich die drei neuen Glocken der St.-Bartholomäus-Kathedrale. Wenn sie zum ersten Mal über den Dächern der Stadt ertönen, ist das Jahr der Kulturhauptstadt in Pilsen offiziell eröffnet. Begleitet werden sie bei ihrem Debüt vom Philharmonischen Orchester der Stadt, das die "Sinfonie für Glocken" spielt. Pilsner Bürger und Firmen hatten für den Erwerb rund 360.000 Euro gespendet. Die Originale waren im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Besatzern eingeschmolzen worden, um daraus Waffen herzustellen. "Etwas Schöneres und Bewegenderes als das Glockenspiel hätten wir uns nicht wünschen können, um den Auftakt des Pilsener Jahres als Kulturhauptstadt einzuläuten", sagt Oberbürgermeister Martin Baxa.

"Pilsen, öffne dich"

Theater, Konzerte, Ausstellungen, Open Air Happenings, akrobatische Zirkuseinlagen: Rund 600 Veranstaltungen stehen 2015 auf dem Kulturkalender der westböhmischen Stadt. Unter dem Motto "Plzen, open up! – Pilsen, öffne Dich" offenbart die Stadt ihr Schätze, um zu zeigen, dass sie die Kulturkrone Europas zurecht trägt. Aber man möchte nicht nur ein Highlight an das nächste reihen, sondern vor allem seine Rolle in der Welt neu definieren. Pilsen ist schließlich mehr als nur Bier – trotz des beliebten Slogans, mit dem man um Besucher wirbt: "Pilsen ohne Bier wäre wie Paris ohne Eiffelturm."

Zapfhähne an einer Theke
Ohne Bier läuft nichts in PilsenBild: picture alliance/AP Photo/P. D. Josek

Den Titel der Kulturhauptstadt, der jährlich an zwei Städte vergeben wird und den sich der tschechische Ort 2015 mit dem belgischen Mons teilt, bringt frischen Wind in traditionsreiche europäische Metropolen. Die EU sorgt allerdings nur für die Ehre, den Löwenanteil der Kosten müssen die Städte, teilweise unterstützt vom Staat, selbst tragen. Gegenüber Mons mit 70 Millionen Euro muss sich Pilsen mit einem bescheidenen Budget von 20 Millionen begnügen. Die Ausgaben, darüber ist man sich einig, sind eine Investition in die Zukunft: Mit dem Titel Kulturhauptstadt kann man deutlich mehr Touristen anlocken.

Reich an Geschichte

Derzeit steht Pilsen immer ein bisschen im Schatten Prags, das circa 120 km weiter östlich liegt. Dabei gibt es auch hier jede Menge Historie, altehrwürdige Kirchen und zahlreiche Museen. Pilsen wurde 1295 im Auftrag von König Wenzel II. gegründet. Die Stadt sollte eine der größten und bedeutendsten böhmischen Städte werden, dementsprechend großzügig wurden Straßen und Plätze angelegt. Fast 700 Jahre später, im Jahr 1989, wurde de historische Stadtkern mit seinen vielen Jugendstilhäusern unter Denkmalschutz gestellt. Hier steht am Platz der Republik die gotische St.-Bartholomäus-Kathedrale, mit 102 Metern kann sie stolz den höchsten Kirchturm Tschechiens vorweisen.

Pilsens Synagoge
Die Pilsner Synagoge gilt als architektonisches SchmuckstückBild: picture-alliance/dpa

Auch die Große Synagoge im maurisch-romanischen Stil ist ein Besuchermagnet. Sie ist die zweitgrößte in ganz Europa und der steinerne Beleg für die Blütezeit der Jüdischen Gemeinde in Pilsen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals zählte sie rund 2000 Mitglieder. Während des Holocausts fielen auch zahlreiche Pilsener Juden dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer, ein großer Verlust für die Stadt und ihr kulturelles Leben. An diese Gräueltaten sowie weitere Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs wird im Mai beim "Fest der Befreiung" erinnert – 70 Jahre nach Kriegsende.

Verborgene Schätze und Apps

So manche Sehenswürdigkeit Pilsens schlummert im Verborgenen. So versteckt sich tief unter der Stadt ein zehn Kilometer langes Tunnelnetz aus dem 14. Jahrhundert, doch auch weitere kulturelle Juwelen sind nicht auf Anhieb zu finden. Ein Team aus Historikern und Zeitzeugen hat daher eine interaktive "Karte der Verborgenen Stadt" entwickelt. Hunderten von Geschichten kann man so hautnah an konkreten Orten nachspüren.

Überhaupt setzt Pilsen im Kulturjahr auf moderne Technik: So können sich Nutzer im Internet oder auf einer Handy-App die Geschichten neun fiktiver Pilsner Charaktere anschauen. Den Autobauer Jarda zum Beispiel, denn einst war Pilsen Sitz der Skoda-Werke. Oder den Brauer Vaclav, der beim Pilsner Urquell beschäftigt ist. "Das ist eine ganz neue Art, die Stadt kennenzulernen", sagt Petr Forman, künstlerischer Leiter der Kulturhauptstadt und Sohn des Oscar-prämierten Regisseurs Milos Forman.

Kulturhauptstadt 2015 Pilsen Tschechien Petr Forman
Petr Forman setzt auf Apps und GeschichtenBild: picture-alliance/dpa/M. Heitmann

Freunde der Innenarchitektur können mithilfe des interaktiven Plans auf den Spuren des Architekten Adolf Loos (1870-1933) wandeln: Mehrere von ihm gestaltete Privatwohnungen wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. "In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war er ein Pionier der modernen Architektur, sagt Magdalena Soukupova vom Tourismusverband."Aber kaum jemand weiß, dass die meisten seiner Arbeiten - mit Ausnahme von Wien - hier in Pilsen zu sehen sind."

Technik und Theater

Vom schicken Interieur hinein in abgewrackte ehemalige Fabrikhallen: Sie mutieren 2015 zu originellen Veranstaltungsorten. Eine alte Produktionsstätte der Brauerei Pilsner Urquell wird die Ausstellung "Europäisches Design" beherbergen. Und in den Werkhallen, wo einst der Skoda vom Band lief, sind jetzt das "Techmania Science Center" und ein 3D Planetarium untergebracht.

Zwei Theater besitzt Pilsen seit September 2014: das Josef Kajetán Tyl Theater und das Neue Thater, das ein bisschen wie ein durchlöcherter Käse aussieht . Ersteres wurde 1902 eröffnet und gehört zu den bedeutendsten Kulturdenkmälern der Stadt, das Neue Theater nahm erst vor wenigen Monaten den Betrieb auf. Es ist eines der Projekte, das unter anderem mit Geldern für die Kulturhauptstadt finanziert wurde. Und es ist ultramodern. Die Kulturhauptstadt will in beiden Häusern nicht nur auf bewährte klassische Stücke setzen, im Gegenteil: "Wir wollen vor allem die Leute begeistern, die eher nicht ins Theater oder in ein Konzert gehen", so Petr Forman.

Mit den meisten Besuchern rechnen die Veranstalter bei einem Auftritt der französischen Kompanie Royal de Luxe, die in der Stadt überdimensionierte Puppen tanzen lassen wird. Außerdem wird etwa alle zwei Monate eine andere Zirkuskompanie in Pilsen haltmachen. Und dann gibt es noch das beliebte Marionettentheater, das in Tschechien Tradition hat.

Schamanen und ein Kamel

Auch ein paar Neuseeländer hat es nach Pilsen verschlagen: Um nicht von der Armee eingezogen zu werden, floh der Maler Gottfried Lindauer um 1874 ans andere Ende der Welt und porträtierte dort die Maori-Ureinwohner. Erstmals haben deren Nachfahren zugelassen, dass die Bilder Neuseeland vorübergehend verlassen. Die Maori glauben, dass die Seelen ihrer Verstorbenen in den Bildern weiterleben", erklärt Programmchef Jiří Sulženko. Darum kämen nicht nur die Gemälde nach Tschechien, sondern auch Maori-Schamanen. "Wir verlassen eben die steroetypen Pfade und öffnen unsere Stadt auf eine ganz neue Weise", ergänzt der Direktor des Kulturhauptstadtbüros, Jiří Suchánek.

BdT Deutschland Ausstellung Gottfried Lindauer Die Māori Portraits in Berlin
Lindauers Gemälde sind erstmals in seiner Heimatstadt zu sehenBild: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Anders als gewöhnlich präsentierte sich übrigens auch das Stadtwappen. So mancher Pilsen-Besucher mag sich wundern, dass dort auch ein Kamel zu sehen ist. Das Tier war ein Geschenk des polnischen Königs an die tschechischen Hussiten, die ihm im Krieg gegen die Türken zur Hilfe eilten. Als diese Anhänger des Reformators Jan Hus 1434 Pilsen als letzte katholische Stadt Böhmens belagerten, behaupteten sie, das Kamel sei ein menschenfressendes Ungeheuer und würde sie verschlingen. Die Stadtbewohner durchschauten die Lüge, entführten das Tier und brachten es im Hof des Rathauses unter. Pilsen ist eben immer für eine Geschichte gut.