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"Politik übt Druck auf Justiz aus"

19. November 2003

– Ungarischer Oberster Richter und Regierungschef im Disput

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Budapest, 17.11.2003, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch, Dénes Vajta

Zwei Gerichtsurteile sorgten in der vergangenen Woche für innenpolitischen Zündstoff. Streitfall Nummer eins war ein Urteil des Gerichts der Stadt Szeged, das zwei Roma weniger als den üblichen Schadenersatz zusprach, die ungerechtfertigt 15 Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten. In den Disput schalteten sich auch der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Zoltán Lomnici, und Premier Péter Medgyessy ein. Lomnici wehrte sich gegen die Einflussnahme der Regierung auf die Rechtsprechung. Streitfall Nummer zwei war der Prozess gegen den ehemaligen MIÉP (Gerechtigkeitspartei – MD)-Parteivize Loránt Hegedus, der der Anklage der Volksverhetzung freigesprochen wurde.

Das Szegeder Gericht begründete sein Urteil damit, dass die Persönlichkeit der zwei Roma "primitiver als der des Durchschnitts der Bevölkerung" sei und bewilligte als Schadenersatz daher lediglich 1,2 statt der vom Brüderpaar verlangten 2 Millionen Forint (ca. 7748 Euro – MD). Auf die heftige Kritik am Urteil in Politik und Presse hin stellte sich der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Zoltán Lomnici, schützend vor die kritisierten Robenträger. Der oberste Richter bat Staatspräsident Ferenc Mádl, Regierungschef Péter Medgyessy und das Parlament, Meinungen zu verurteilen, die die Unabhängigkeit der Richter verletzen.

Lomnici hielt auch eine Pressekonferenz, in der er die versuchte Einflussnahme von Politikern auf die Entscheidungen von Richtern kritisierte. Lomnici zufolge seien diese Erscheinungen, die ihn an die Zeit des Sozialismus erinnerten, in einem Rechtsstaat unzulässig. Er gab zwar zu, dass die Entscheidungen der Gerichte in der Öffentlichkeit diskutiert werden könnten. "Aber Erwartungen zu wecken auf den Ausgang der richterlichen Urteilsfindung ist nicht nur unmoralisch, sondern verstößt gegen die Prinzipien des Rechtsstaats", geißelte Lomnici.

Der Oberste Richter billigte zwar die Meinung von Justizminister Péter Bárándy, dass auch ein Politiker das Recht auf Meinungsäußerung über ein richterliches Urteil habe, aber dies müsse sehr vorsichtig erfolgen und dürfe mit keiner Erwartungshaltung verknüpft werden. Lomnici kritisierte namentlich den linken Publizisten Gáspár Miklós Tamás und den Ombudsmann für Minderheiten, Jeno Kaltenbach. Lomnici zufolge könne diese Kritik die Entscheidung des Berufungsgerichts beeinflussen. Er wies die Ansicht von Gáspár Miklós Tamás scharf zurück, dass die Richter Antisemiten und Romafeindlich seien.

Premier Medgyessy antwortete, dass die Grundlage jedes demokratischen Rechtsstaats die Gleichheit der Bürger sei. "In diesem ist jede Form der Ausgrenzung, Hetze und Abstempelung des anderen unzulässig." Es gebe keine Demokratie und keinen Rechtsstaat, wenn irgendjemand seinen Mitmenschen in einer öffentlichen Urkunde als primitiv bezeichnen könne. Medgyessy zufolge gibt es Fälle, in denen die Gesetze zum Schutz des Rechtsstaats geändert werden müssten. So auch im Fall der Hetzrede, die deswegen vor das Parlament gekommen sei.

Auch der Oberste Staatsanwalt Péter Polt reagierte. "In einem demokratischen Rechtsstaat ist es unzulässig, dass die Arbeit der Gerichte und der Staatsanwaltschaft politisch oder anders beeinflusst wird", stellte Polt lakonisch fest. Der von Lomnici kritisierte Gáspár Miklós Tamás nannte die Argumente des Obersten Richters lächerlich. "Lomnici hat sein Gefühl für Verhältnismäßigkeit verloren. Auch die Richter müssen zur Kenntnis nehmen, dass in einer Demokratie Kritik geübt wird", sagte der Publizist.

Ähnlich empfindlich reagierten die Gerichte auch im Fall von Lóránt Hegedus. Das MIÉP-Mitglied, im Hauptberuf reformierter Pfarrer, war 2001 in erster Instanz wegen Volksverhetzung zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden, nachdem er in einem Zeitungsartikel die Juden in Ungarn als "Horde von galizischen Fremden" bezeichnet hatte. Hegedus wurde jetzt von einem Budapester Berufungsgericht in zweiter Instanz freigesprochen, was vom Bund der Juden in Ungarn scharf kritisiert wird.

Auch die Reformierte Kirche Ungarns, der Hegedus angehört, war schockiert. "Wir haben unsere eigene Meinung, können uns aber nicht über ein Urteil der Richter stellen", sagte am Donnerstag Bischof Gusztáv Bölcskei, dessen Kirche sich von den Äußerungen des MIÉP-Mitglieds distanziert hatte. (fp)