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Polnische Justiz am Rande des Abgrunds

29. Juli 2002

- 27 000 rechtskräftig Verurteilte laufen frei herum und Justitia ist machtlos

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Warschau, 29.7.2002, Newsweek Polska, poln.

(....) Die polnische Justiz steht am Rande des Abgrunds. Die Zahl der Verfahren wächst rapide und noch schneller nimmt der Aktenberg mit den Fällen zu, die noch bearbeitet werden müssen. Im letzten Jahr wurden 8,2 Millionen Fälle bei Gericht eingereicht, d.h. zwölf Prozent mehr als im Jahr 2000. 2,2 Millionen davon blieben aber unerledigt, d.h. 24 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

Das ist keine Krise der Justiz mehr, das ist eine Gefahr für den Staat und für die Erfüllung seiner Aufgaben sowie eine Bedrohung für wirtschaftliche Strukturen des Staates. Dieser Zustand bringt aber auch das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat ins Wanken.

Die Verzögerungen bei der Registrierung der Firmen, bei den Eintragungen in die Grundbücher, oder bei der Einziehung der Schulden sowie bei der Finanzgerichtsbarkeit bilden nur die Spitze des Eisbergs, dem die Untauglichkeit des Rechtssystems zu Grunde liegt.

Aus der Unfähigkeit des Justizministeriums, seinen Aufgaben nachzukommen, resultiert ein rapider Anstieg der Kriminalität. Dies ist neben der Arbeitslosigkeit eine der Hauptursachen, warum das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat sinkt. Der neue Justizminister, Grzegorz Kurczuk, verfügt noch über keinen detaillierten Plan, um das Rechtssystem zu verbessern. Er hat aber schon einige Rezepte. Jedes dieser Rezepte kann – wie schon bei seinen Vorgängern – auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, d.h. auf den berühmten Satz: "Wir brauchen mehr Geld". Ohne eine Finanzspritze, kann die Situation sehr bedrohlich werden.

Das ist nicht nur ein Problem von Minister Kurczyk oder sogar ein polnisches Problem. Der Zeitschrift NEWSWEEK gelang es, an einen Geheimbericht der Europäischen Union heran zu kommen, in dem die Lähmung der polnischen Justiz als "eine Bedrohung für die Entwicklung des Staates" angesehen wird. Auf dieselbe Tatsache wird aber auch von der Weltbank hingewiesen. In einem Bericht der Weltbank über "Die Weltentwicklung 2002", der im November letzten Jahres veröffentlicht worden ist, wurde die polnische Justiz am Ende der Liste platziert. In Bezug auf die Lösung wirtschaftlicher Auseinandersetzungen und der Einziehung der Schulden wurde uns der vorletzte d.h. der 108. Platz zugesprochen. Die Experten rechneten aus, dass die Bearbeitung eines Verfahrens in Polen durchschnittlich drei Jahre in Anspruch nimmt, und in Tschechien z.B. lediglich 270 Tage.

Die polnische Regierung antwortet auf diese Vorwürfe mit dem Versprechen, alles zu verbessern und die Ausgaben für die Justiz zu erhöhen. Aber woher kann sie Geld herzaubern, wenn das Haushaltsloch über 40 Milliarden Zloty beträgt? Minister Kurczyk kündigte an, dass er um jeden Zloty kämpfen werde. Welchen Betrag er aber aus dem Haushalt 2003 wirklich erkämpfen kann, weiß heute niemand.

In den Augen der EU und der Weltbank gehören die wirtschaftlichen Angelegenheiten zu den wichtigsten. Das Schicksal von vielen Firmen versetzt die Experten aus der Welt, die unser Rechtssystem beobachten, in blankes Staunen. (...)

In Polen genießen 27 000 bereits rechtskräftig verurteilte Personen immer noch die Freiheit. Die einen sind krank und die anderen müssen sich um die Familie kümmern. Die Mehrheit von ihnen kommt aber einfach nicht zu dem Termin, der vom Gericht angesetzt wurde. Diese Tatsache interessiert aber niemanden. Warum? Die polnischen Gefängnisse sind einfach überfüllt. Schon heute übersteigt die Zahl der Gefangenen die Anzahl der Plätze in den Gefängniszellen um etwa 20 Prozent. (...)

Viele der Verurteilten nutzen die Ohnmacht der polnischen Justiz aus und verstecken sich. Den Rekordhaltern ist es gelungen, sich vor Justitia sogar über zehn Jahre zu verstecken. Nachdem ein Urteil rechtskräftig wird, erhält der Verurteilte vom Gericht eine schriftliche Aufforderung, im Gefängnis zu erscheinen. Wenn dann nach drei Tagen der Hafteintritt nicht erfolgt, benachrichtigt der Gefängnisdirektor das Gericht. Das Gericht wiederum schreibt den Verurteilten zur Fahndung aus. Aus den Informationen, die die Zeitschrift NEWSWEEK erhielt, geht jedoch hervor, dass die Fahndung erst nach zwölf und manchmal sogar nach achtzehn Monaten eingeleitet wird.

Das Verstecken ist nur eine der vielen Methoden, die Gefängnisstrafe zu umgehen. Auch schwer Kranke werden nicht im Gefängnis eingesperrt. Das ist auch der Grund dafür, dass 450 rechtskräftig Verurteilte ihre Strafe nicht absitzen.

Herzkrank unter ihnen waren auch die Gebrüder Cezary und Bartosz Buczek, die im Mai 1998 einen Geschäftmann mit Waffen überfallen hatten. Im September 1999 wurden sie vom Gericht zu Gefängnisstrafen verurteilt. (...). Sie legten jedoch ärztliche Bescheinigungen vor, aus denen hervorging, dass sie schwer herzkrank seien. Diese Diagnose wurde von dem Kardiologischen Klinikum der Schlesischen Medizinischen Akademie gestellt, die wiederum von Professor Stanislaw Pasyk geleitet wird, der gleichzeitig der Eigentümer der Firma ‘Grudynia‘ ist, in deren Aufsichtrat der Vater der Verurteilten, Andrzej Buczek, sitzt. Der Vater, der übrigens auch Eigentümer des Gebäudes ist, in dem das Gericht in Sosnowiec seinen Sitz hat, wird auch wegen Wirtschaftskriminalität steckbrieflich gesucht. Erst als sich die Medien dieser Sache annahmen, wurden die Gebrüder Buczek vor eine unabhängige Ärztekommission gestellt und erneut untersucht. Die Kommission befand, dass sie völlig gesund sind. (...) (Sta)