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Die Geschichte spielen

25. November 2009

Theater, das man so noch nicht in Deutschland gesehen hat, will das SPIELART-Festival nach München holen. Im großen Gedenkjahr 2009 beschäftigen sich viele Stücke mit der Vergangenheit.

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Esther und Anna K. Becker als siamesische Zwillinge in der Produktion "Woodstock of Political Thinking" (Foto: SPIELART)
Woodstock of Political ThinkingBild: Spielart

Ungewöhnliches, innovatives, junges Theater gibt es jedes zweite Jahr im herbstlichen München. Mehr als zwei Wochen lang zeigt das Festival SPIELART neue, aufregende Theaterproduktionen aus aller Welt. "Gob Squad" haben sich vorgenommen, Andy Warhols Experimentalfilm "Kitchen" Szene für Szene nachzuspielen. Die Entdeckung des letzten SPIELART-Festivals, die italienische Künstlergruppe "Orthographe" ist dieses Jahr mit einer neuen Inszenierung vertreten, die sich montageartig mit der Darstellung von Krieg und Kriegsbildern beschäftigt. Und gleich zu Beginn des Festivals bestimmt Theater und politischer Diskurs die Marathonveranstaltung "Woodstock of Political Thinking".

Theaterthemen sind keine Fiktion

Lola Arias blickt freundlich und zugleich energisch in die Kamera (Foto: Peter Manninger)
Lola AriasBild: Peter Manninger

Zahlreiche zu SPIELART eingeladene Produktionen befassen sich mit der Vergangenheit und damit, wie sie die Gegenwart prägt. So auch Lola Arias, eine junge argentinische Regisseurin, Jahrgang 1976, die mit jungen Schauspielern einem ungewöhnlichen dokumentarischen Ansatz folgt. Ihre Darsteller erzählen ihre eigene Geschichte während der Zeit der Militärdiktatur. Und das, obwohl die jungen Erwachsenen auf der Bühne damals noch Kinder und Babys waren.

Die Regisseurin und Autorin lässt die sechs Schauspieler auf der Bühne ihre reale Geschichte erzählen, die Rolle, die ihre Eltern während der Diktatur spielten – egal ob sie auf der Seite des Staates oder auf der Seite der Guerilla standen, ob sie emigrierten oder unpolitisch waren. Arias will mit dieser Form sehr persönlich und von der Warte ihrer Generation aus die Geschehnisse der Vergangenheit erzählen und damit auch althergebrachten Aufarbeitungen etwas entgegensetzen. Stücke, die immer etwas "tragisches, schuldbeladenes, düsteres" haben.

Schauspiele sitzen auf Stühlen und blasen in ein Melodikamundstück, das an einem langen Schlauch befestigt ist. Die Instrumente liegen auf den Schenkeln der Schauspieler (Foto: Lorena Fernández)
Mi Vida DespuésBild: Lorena Fernández

Das Leben geht weiter

In "Mi Vida Después – Mein Leben danach" gibt es zwar auch viele nachdenkliche und traurige Momente, aber dazwischen fliegen Berge aus alten Kleidungsstücken durch die Gegend, eine Schauspielerin singt ein sehr poetisches Lied darüber, wie sie davon träumt, den eigenen Eltern zu begegnen, als diese genauso alt waren wie sie jetzt. Und es funktioniert: Genau diese Begegnung findet auf der Bühne statt.

Es ist nicht das erste Stück, das Lola Arias, die 1976 in Buenos Aires geboren wurde, in Deutschland zeigt. Auch an den Kammerspielen in München inszenierte sie in dieser Spielzeit ein eigenes Stück, das mit den Erfahrungen der Darsteller arbeitet: "Familienbande". Die Methode ist ähnlich wie bei der Aufführung, die gerade bei SPIELART zu sehen ist: Der Stoff kommt von den Schauspielern selbst. Und auch Risiken gehören dazu, wenn sie für die Aufführung Sinn machen. So darf der kleine Sohn eines Schauspielers ebenfalls auf die Bühne – denn schließlich ist er das Bindeglied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Unkonventionelles Theater bevorzugt

Eine Generation, die mit Popkultur sozialisiert wurde, präsentiert ein Theater, bei dem Kleider mehr als Kostüme sind und Musik und Video keine Spielereien, sondern normales Equipment. Das sieht auch die Regisseurin und Autorin Arias so: "Mich interessiert am Theater, dass es lebt, dass es wirklich lebendig ist. Kein Theater, das ein Museum von Konventionen ist."

Ein Ansatz, den die Festivalmacher teilen. SPIELART zeigt gerne Produktionen, die formale Muster von Theaterstücken sprengen. Junge Künstler und Uraufführungen, Theatergruppen aus unterschiedlichsten Nationen und Sprachen. Verschiedene Blickwinkel.

Kleidungsstücke liegen auf Stühlen, so angerichtet, als ob sie von Menschen getragen würden (Foto: Lorena Fernández)
Fliegende Kleiderberge aus vergangenen ZeitenBild: Lorena Fernández

Das Festival SPIELART ist von jeher ein Sprungbrett für junge Theatermacher. Mit einer Art Mentorenprogramm, das sich "Connections" nennt, werden junge Künstler gefördert, die im Rahmen des Festivals eine Uraufführung produzieren dürfen. Tilman Broszat und Gottfried Hattinger, die das Festival kuratieren und leiten, haben für ihre Arbeit im vergangenen Jahr den Theaterpreis der Landeshauptstadt München gewonnen. Eine Auszeichnung, die ihnen auch dafür verliehen wurde, dass sie das Risiko, Neues auszuprobieren und unterschiedliche Strömungen zu zeigen, als Aufgabe begreifen. "Wir sind auch keine Sheriffs einer bestimmten ästhetischen Richtung, sondern haben eine große Offenheit," meint Gottfried Hattinger. Und vielleicht sind auch solche Festivals dafür verantwortlich, dass sich die Grenzen zwischen einem unabhängigen Autorentheater und etablierten Stücke-Produktionen inzwischen aufgeweicht und verschoben haben. Schließlich waren 1995, zu Beginn von SPIELART, die staatlichen Theater noch Feindbild und Reibefläche für das neue, junge Theater. Heute ist eine junge Regisseurin wie Lola Arias gleichermaßen bei SPIELART und in den Kammerspielen vertreten.

Autorin: Renate Heilmeier

Redaktion: Conny Paul