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Presseschau: "Erste Kriegserklärung des 21. Jahrhunderts"

3. Januar 2006

Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine war ein energiepolitisches Neujahrsbeben, das ganz Europa wach gerüttelt hat.

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"La Repubblica" aus Rom: Bedrohung für eine ganze Region

Der Gasstreit hat die russische und die ukrainische Grenze überschritten, weitet sich zunächst auf den reichen Westen aus und dann auch auf ärmere Länder - er bedroht eine ganze Region. Die am Abend erzielte Einigung mit dem Versprechen, die Lieferungen an die EU von heute an wieder voll zu gewährleisten, scheint nicht dauerhaft. Moskau hat entschieden, dem Druck der Europäischen Union nachzugeben, aber warnt, dass es nicht für immer die Diebstähle der Ukrainer decken kann.

"Independent" aus London: Europa braucht gemeinsame Energiepolitik

Der Ukraine den Gashahn zuzudrehen, ist eine politische Entscheidung. Wladimir Putin will die Regierung der Ukraine unter Viktor Juschtschenko aushebeln. Die Gründe für diese Krise liegen auf der Hand, aber ihre Auswirkungen sind noch nicht in vollem Ausmaß absehbar. Der Streit macht die Abhängigkeit der Europäer von russischem Erdgas deutlich. Frankreich, Österreich, Deutschland und Italien sind wachgerüttelt. Europa braucht eine gemeinsame Energiepolitik, und diese Krise macht die Dringlichkeit deutlich.

"Magyar Nemzet" aus Budapest: Gaspoker lenkt Augenmerk auf Ungarns Abhängigkeit

Die für die Energieversorgung des Landes verantwortlichen Politiker dürfen den Kopf nicht länger in den Sand stecken. Denn die Ausgeliefertheit Ungarns ist noch größer als die der anderen Länder in der Region. Die Importabhängigkeit macht nämlich 80 Prozent aus, der Erdgasanteil am gesamten Energiesektor mehr als 40 Prozent. Es ist sehr schade, dass nur in einer derart kritischen Lage die Option erwogen wird, der Kohle und dem Atom in der Energieversorgung des Landes eine größere Rolle einzuräumen. Natürlich an zweiter Stelle hinter der Nutzung umweltschonender, erneuerbarer Energiequellen.

"France Soir" aus Paris: Hohe Rechnung der orangenen Revolution

Dieser Kalte Krieg ist so samten wie die Revolution, die 2004 von der CIA in der Ukraine organisiert wurde. Natürlich war das damalige neostalinistische Regime kein Modell der Tugendhaftigkeit. Doch es wäre niemals ohne das Geld und die Mittel des US-Geheimdienstes gestürzt worden. Muss man sich wundern, wenn Russland jetzt den USA in gleicher Münze heimzahlt, indem es seine Satelliten mit der Gasaffäre auffordert, ihr Lager zu wählen? Entweder ihr seid in unserem Orbit der früheren RGW-Länder (Rat für gegenseitige Wirtschafthilfe), oder ihr geht mit dem Westen und zahlt den Marktpreis.

"Liberation" aus Paris: Nun die kapitalistische Revolution für die Ukraine

Russland fordert Marktpreise für sein Gas und droht deswegen die Schließung der Gashähne an. Damit wendet Russland nur die erprobten Rezepte des internationalen Kapitalismus an. Wie kann man ihm das vorwerfen?

"Berlingske Tidende" aus Kopenhagen: Energie-Supermacht Russland auf falscher Spur

Natürlich ist nichts Vernünftiges oder Angemessenes daran, dass die Ukraine oder andere Länder in der früheren Sowjet-Sphäre ihre Wirtschaft auf ewig extrem billigen russischen Energielieferungen aufbauen. Aber als Energie-Supermacht hat Russland auch eine einleuchtende Verpflichtung zur langsamen Anhebung der Preise über mehrere Jahre, damit es bei den Kunden nicht zu Krisen kommt. Die derzeitige Machtdemonstration gegenüber der Ukraine ist deshalb so unerträglich, weil sie deutlich die außenpolitisch geballte eiserne Faust des Kreml zeigt.

"Le Monde" aus Paris: Erste Kriegserklärung des 21. Jahrhunderts

Es ist die erste Kriegserklärung des 21. Jahrhunderts. Ein Land hat die Energieversorgung eines anderen gekappt, weil dieses sich nicht seinen Forderungen gebeugt hat. Russland, der größte Gasproduzent der Welt, hat auf den Knopf der Gaswaffe gedrückt. Mit dem Aufstieg von Verbrauchsriesen wie China und Indien sind die Rohstoffe eine wirtschaftliche Waffe der Abschreckung, wenn nicht der Massenvernichtung, geworden. Eine neue Geopolitik zeichnet sich ab, die Produzentenländer wie Russland in eine Position der Stärke bringt und Käufer wie China zu einer Diplomatie der Versorgungssicherheit gegenüber zum Beispiel Afrika und dem Nahen Osten zwingt.

"Neue Zürcher Zeitung": Putins beweglicher Energie-Hebel

"Putin kann mit dem Hebel des russischen Reichtums an fossilen Energieträgern nicht nach Belieben schalten und walten. Massiv unter Druck setzen lassen sich in kürzerer Frist wirtschaftlich wenig robuste Nachbarn wie Weißrussland, die Ukraine oder Georgien. Aber Moskau ist umgekehrt auch auf die milliardenschweren Deviseneinnahmen durch seine Öl- und Gasverkäufe aus dem Ausland angewiesen, ohne die der russische Staatshaushalt in seiner heutigen Größenordnung nicht zu finanzieren wäre ( … ) Die russischen Interessen an einem florierenden Gas- und Ölgeschäft sollten Europa und die USA nutzen, um im Lieferkonflikt zwischen Moskau und Kiew eine vermittelnde Rolle zu übernehmen. Auf lange Sicht aber kann es für alle nicht mit Erdgas und Öl gesegneten Staaten nur ein Rezept geben, sich vor unliebsamen Druckmanövern zu schützen, wie sie die Ukraine in diesen Tagen erlebt: durch Diversifikation und Innovation der eigenen Energieversorgung. (kas)