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Pressestimmen: "Schlechte Nachricht für Europa"

2. November 2005

Deutschland "am Rande eines Nervenzusammenbruchs" und "in schwerer See" - so sehen es zumindest ausländische Kommentatoren. Und spekulieren darüber, wie es weitergehen könnte.

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Die Wiener Zeitung "Kurier" vermutet in Deutschland "ein zweites Italien":

Im Vergleich zu den Wirren deutscher Innenpolitik profiliert sich Italien als stabiles Land: Das vorzeitige Ende der Legislaturperiode in Deutschland, ein Wahlkampf von nie gekannter Demagogie, der die Rolle von Regierung und Opposition umdrehte, die Anmaßung der Kanzlerschaft durch den Verlierer, ein Pokern, dass sich die Wähler für dumm verkauft fühlen (mussten), und schließlich die Umdrehung aller Wahlversprechen: Das waren wir von der größten Demokratie Europas bisher nicht gewohnt. Wie bizarr auch das immer für langweilig und seriös gehaltene Deutschland sein kann, führen uns die Parteien derzeit vor.

"Deutsche Politiker fallen dauernd von der Leiter", konstatiert die konservative norwegische Tageszeitung "Aftenposten" aus Oslo:

Die Entwicklung der deutschen Politik seit den Wahlen am 18. September beginnt immer mehr dem guten alten 'Leiterspiel' zu ähneln. Dabei kann man auf dem Weg zum Ziel mit etwas Pech herunterfallen und muss wieder von vorne anfangen. Es hat bei den mühseligen Verhandlungen zwischen den gleich großen Sozial- und Christdemokraten über eine große Koalition schon viele solcher Abstürze gegeben. (...) Das ganze Koalitionsprojekt kann noch von ganz oben auf der Leiter zurück zum Ausgangspunkt fallen. Dann müssten die Parteien sich unverrichteter Dinge wieder an das deutsche Volk wenden.

Die linksliberale dänische Tageszeitung "Information" aus Kopenhagen befürchtet einen "Nervenzusammenbruch":

Es hat etwas Bizarres, dass der 'Showdown' in der SPD überhaupt geschehen konnte. Auch wenn Franz Müntefering wie kein anderer die Seele und der empfindsamste Seismograph der SPD gewesen ist, hat er die Revolte nicht kommen sehen. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, mit ein paar wohlgewählten Worten das Gleichgewicht in der Partei wiederherzustellen. Genauso merkwürdig aber ist, dass Andrea Nahles sogar bei den Gemäßigten in der Partei Stimmen sammeln konnte. (...) Deutschland ist heute ein Land am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Treulosigkeit ist ja eine ernste Angelegenheit.

Unter der Überschrift "Versuchs noch einmal, Deutschland" kommentiert die konservative britische Zeitung "The Times":

Eine Neuwahl ist besser als eine dem Untergang geweihte große Koalition. Es ist 45 Tage her, seit die Deutschen ihre Stimmen bei einer Parlamentswahl abgegeben haben. Die optimistischste Schätzung ist, dass weitere 20 Tage vergehen, bis die 'große Koalition' zwischen den mitte-rechts-stehenden Christdemokraten und den mitte-links-stehenden Sozialdemokraten zu Stande gekommen ist. Alles sieht danach aus, dass so eine Regierung bestimmt keine 'große' sein wird und dass sie auch kaum als wirkliche 'Koalition' bezeichnet werden kann. (...) Dieser lieblosen politischen Ehe ist die Scheidung vorbestimmt.

Die konservative Pariser Tageszeitung "Le Figaro" warnt vor einer länger andauernden Krise:

Ein Land wie Deutschland ohne Führung mit einer gelähmten Wirtschaft wäre eine wirklich schlechte Nachricht für das gesamte Europa. Von den Neuwahlen haben sich die Partner Deutschlands ursprünglich eine Beschleunigung der Reformen mit einem Ansteckungseffekt für die Nachbarländer versprochen. Im Augenblick erleben sie jedoch das Gegenteil. Deutschland ist erstarrt und hat in Europa keine Stimme mehr. Wenn diese lähmende Krise zu lange dauert, wird sie schwer zu ertragen sein. (arn)