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Pressestimmen von Dienstag, 2. Mai 2006

Ursula Kissel2. Mai 2006

Gewerkschafts-Kundgebungen zum 1. Mai / Tod von Paul Spiegel, dem Zentralrats-Vorsitzenden der Juden in Deutschland

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Die Kundgebungen der Gewerkschaften zum 1. Mai und der Tod des Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, sind Themen der Kommentare deutscher Zeitungen. Zunächst zu den Maikundgebungen, auf denen vor weiterem Sozialabbau gewarnt und ein Mindestlohn gefordert wurde. Das Motto des Gewerkschaftsbundes lautete: "Deine Würde ist unser Maß.":

Die in Essen erscheinende NEUE RUHR/NEUE RHEIN-ZEITUNG befürwortet das Motto der diesjährigen Kundgebungen:

"... In diesem Jahr hat man sich die Würde des Menschen auf die Fahnen geschrieben, die das Maß allen Handelns sein soll. Das mag abgehoben klingen, doch sehen die Gewerkschaften genügend Entwicklungen, die solche Überhöhung ins Moralische nicht als abwegig erscheinen lassen. Politik ist ein raues Geschäft geworden, seit durch Überalterung der Gesellschaft oder Globalisierung harte Reformprozesse unabwendbar geworden sind. ... Das haben die Gewerkschaften an diesem 1. Mai angemahnt. Das war richtig und gut so."

Auch von der 'Leipziger Volkszeitung' wird das Motto insgesamt posivitv gesehen:

"Eine Steilvorlage, wie sie Franz Müntefering mit seiner Kapitalismuskritik im vorigen Jahr lieferte, bot sich den Gewerkschaften in diesem Jahr nicht. Aber das hehre Motto der Menschenwürde eignete sich ähnlich gut für einen Generalangriff auf die soziale Kälte in der Marktwirtschaft. So überboten sich auch am gestrigen 1. Mai die Sommers und Peters auf Kundgebungen mit Warnungen und Mahnungen an die gut verdienenden Bosse deutscher Konzerne. ... Wie nach einer Phase der Besinnung gerät endlich wieder der Mensch in den Fokus."

Hinterfragt wird das Motto zum 1. Mai von den KIELER NACHRICHTEN:

"Die Würde ist also das Maß aller Dinge für die Gewerkschaften. Die Würde der Funktionäre und Arbeitsplatzbesitzer, um genauer zu sein. Denn von der Würde der Arbeitslosen war auf den Mai-Kundgebungen nicht die Rede. Im Gegenteil: Was die Gewerkschaftsbosse als Angriffe auf die Würde des Menschen anprangern, könnte vielen Jobsuchenden durchaus helfen, ein Leben in Würde erst zu führen. Michael Sommer, Jürgen Peters und Frank Bsirske lehnen nämlich quasi alles in Bausch und Bogen ab, was nach Expertenmeinung mehr Beschäftigung verspricht: ... Seit gestern sind aus Gewerkschaftssicht auch Unternehmer ohne Würde, die zweistellige Renditen erwirtschaften."

Dass die Bedeutung des 1. Mai als Tag der Arbeit schwindet, glaubt die LAUSITZER RUNDSCHAU aus Cottbus:

"Es geht ihm, dem 1. Mai, auch in Ostdeutschland inzwischen so wie den christlichen Feiertagen. Immer weniger wissen, was er einmal bedeutete. Aber während die Minderheit der gläubigen Christen wohl noch viele Jahre zu Ostern die Auferstehung des Jesus von Nazareth feiert, droht dem Kampftag der Arbeiterklasse das endgültige Ableben. Er scheint zu einer leidenschaftslos absolvierten Pflichtübung von Gewerkschaftsfunktionären geworden zu sein. Die reisen in Dienstwagen an und schimpfen dann alljährlich und auch dieses Mal wieder wegen der Millionen Arbeitslosen und geißeln die Gier der Kapitalbesitzer. ..."

Und nun zum nächsten Thema: Mit Trauer und Erschütterung haben Vertreter aus Politik, Kirche und Gesellschaft auf den Tod des langjährigen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, reagiert. Auch die Kommentatoren der Presse befassen sich mit dem Tod des 68-Jährigen:

Die HEILBRONNER STIMME schreibt:

"Paul Spiegel ist tot und mit ihm vermutlich auch eine ganz bestimmte Form der Erinnerung an den Holocaust: die der Opfer aus eigenem Erleben. Längst hat jüdisches Leben in Deutschland wieder seinen Platz. Neue Synagogen werden eingeweiht, die Zahl der Gläubigen wächst. All das sind Zeichen der - man wagt das Wort kaum - Normalität. Doch genau die wollten Spiegel und seine Zentralrats- Vorgänger. Dass sie zuweilen als Mahner über das Ziel hinaus schossen, gehört zur Tragik solcher Männer wie Heinz Galinski, Ignatz Bubis oder Paul Spiegel. ... "

Auf das Lebenswerk des Zentralratsvorsitzenden schaut die BRAUNSCHWEIGER ZEITUNG:

"Paul Spiegel wollte stets versöhnen. Dieses Ziel hat der ebenso unaufdringliche wie beharrliche Mann erreicht - auch darin war und bleibt er ein Vorbild. Er hat es den Deutschen durch seine Art leicht gemacht, weil er wusste, dass seine Botschaft für viele unbequem ist: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist eine Pflicht. Sie muss erfüllt werden, damit sich das Grauen nie wiederholen kann. Spiegel hatte eine Vision. ... Es macht betroffen, mit welcher Kraft und Selbstverständlichkeit er seinen Traum gelebt hat, ohne je in Pessimismus zu verfallen."

Der WESTFÄLISCHER ANZEIGER aus Hamm formuliert:

"Paul Spiegel war mehr als ein Mahner: Der überzeugte Demokrat setzte sich energisch für eine Zukunft des Judentums in Deutschland ein. ... Dieses Engagement macht seinen Tod zu einem schweren Verlust für jeden Demokraten. Insbesondere in Zeiten, in denen Übergriffe auf Minderheiten wie zuletzt in Potsdam wieder häufiger Schlagzeilen machen."

Der in Berlin erscheindende TAGESSPIEGEL bemerkt:

"... Wie schwer sich die Politik tut, danach zu handeln, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, war in den vergangenen Wochen jeden Tag zu erleben. Der Vernunft eine Gasse, hätte man rufen mögen auch hier fehlte Spiegels Stimme."

Und die RHEIN-NECKER-ZEITUNG aus Heidelberg sieht in die Zukunft:

"Vermutlich war Paul Spiegel der letzte Vorsitzende des Zentralrats, der als Überlebender aus dem Holocaust kam. Aber hinter dieser biographischen Zuschreibung sollte sich nicht die Erwartung verbergern, damit sei nun alles gut. Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden wird noch lange ein besonderes bleiben. Neonazismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind nicht besiegt. Im Gegenteil. Die Hemmschwelle sinkt. Spiegel hat warnend auf diese Tendenz hingewiesen. Er tat dies als deutscher Jude, dessen Auftrag es war, die präventive Wirkung des Erinnerns wachzuhalten. Eindämmen konnte er den Ungeist nicht. Das können auch nicht die Juden leisten. Das müssen die Deutschen selbst tun."