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Pressestimmen von Dienstag, 23. Januar 2007

Siegfried Scheithauer22. Januar 2007

Freilassung Ex-RAF-Terroristen / Nach der Wahl in Serbien

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Auch die Bundesanwaltschaft plädiert jetzt für eine baldige Freilassung der früheren RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt. Deren ehemaliger Genosse Christian Klar hat die Begnadigung beantragt. Das erregt die Gemüter auch der Kommentatoren, die sich überwiegend f ü r einen Gnadenakt aussprechen.

So meint die BERLINER ZEITUNG:

"Die RAF existiert nicht mehr. Das Kapitel der bundesdeutschen Geschichte, an dem sie blutig mitgeschrieben hat, ist nicht vergessen, aber abgeschlossen. Wenn der Staat Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar nun die Hand ausstreckt, reicht er sie nicht früheren Terroristen, sondern Überlebenden. So soll es sein, denn die Todesstrafe ist in Deutschland abgeschafft."

In der STUTTGARTER ZEITUNG lesen wir:

"Die Bundesanwaltschaft, einst selbst Ziel eines RAF-Anschlags und auch deshalb einst emotional reagierend, hat jetzt die vorzeitige Entlassung von Mohnhaupt aus der Haft auf Bewährung empfohlen. Das zeugt von Größe. Die Republik findet unspektakulär zur Normalität zurück. (...) Selbstverständlich war das nicht. Wir können darauf ein bisschen stolz sein."

Der MANNHEIMER MORGEN erkennt eine souveräne Entscheidung eines selbstbewussten Staates:

"Der Staat tut gut daran, wie in der Vergangenheit auch schon geschehen, die Hand zur Versöhnung auszustrecken, ohne allerdings die Leiden der Opfer außer Acht zu lassen. Denn es ist verständlich, wenn die Witwe Hanns-Martin Schleyers gegen eine Freilassung eintritt. Und doch wäre ein solcher Schritt ein Zeichen, das kein schwaches, sondern ein starkes Gemeinwesen setzt."

Die PFORZHEIMER ZEITUNG schließt sich an:

"Vielleicht würde jeder, der für die Freilassung der beiden plädiert, anders reden, wenn ihm die RAF-Mitglieder das Liebste genommen hätten. Trotzdem bleibt: Es spricht nicht g e g e n den Rechtsstaat, wenn er Schwerstverbrechern eine zweite Chance einräumt, sondern f ü r ihn."

Die KIELER NACHRICHTEN treffen folgende Abwägung:

"Niemand, der die Freilassung befürwortet, muss zwangsläufig Sympathie oder Mitleid für die Ex-Terroristen empfinden. Dass sie wieder in die Freiheit entlassen werden, ist ein Beweis für die Stärke und das Selbstbewusstsein eines Staates, den sie einst mit menschenverachtenden Mitteln bekämpft haben. Und: Sie haben ihn am Ende stärker gemacht, als er es vorher war. Auch deshalb kann er es sich heute leisten, Gnade walten zu lassen."

Die LÜBECKER NACHRICHTEN beurteilen die Seelenlage so:

"(...) Es geht ja gar nicht um Vergebung, eben so wenig wie es dem Staat und der Justiz um Rache gehen darf. Vielleicht ist alles einfacher, selbst im Falle Mohnhaupt: Die Frau hat 24 Jahre lang im Gefängnis gesessen, und man sagt, sie sei geläutert. Wenn dem wirklich so ist, dann darf man sie auch freilassen. Selbst sie. Mit ihrer Schuld muss sie ohnehin weiter leben."

Zweites großes Kommentarthema sind die Parlamentswahlen in Serbien. Die Wahlen vom Sonntag haben keineswegs zu mehr politischer Klarheit geführt. So analysieren denn auch die deutschen Leitartikler meist den Doppelcharakter des Resultats und sehen kaum Perspektiven in Belgrad.

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE würdigt die Gesamtsituation:

"Sicher ist es hässlich, dass Vojislaw Seseljs radikale Nationalisten und die ehedem von Slobodan Milosevic geführte Sozialistische Partei ein Drittel der Stimmen erhalten haben. Aber dies ist das Ergebnis eines demokratischen Wahlgangs, der ohne maßgebliche Zwischenfälle verlief. Noch vor wenigen Jahren war das nicht selbstverständlich in einem Staat, der seine Bedeutung für die Region stets aus seiner Zerstörungskraft bezogen hat. Zum wahren Belastungstest für die serbische Demokratie wird allerdings die nahende Unabhängigkeit des Kosovo", kommentiert die FAZ.

Die KÖLNISCHE RUNDSCHAU wirft ein Schlaglicht auf die Gegenseite:

"Die demokratischen Parteien in Serbien haben zwar die Wahl gewonnen, aber noch lange nicht gesiegt. Dazu bedarf es einer Einigung der seit Jahren in inniger Feindschaft verbundenen Gruppierungen (...). Vor allem der nationalkonservative Regierungschef Vojislaw Kostunica müsste über seinen Schatten springen und sein Amt einem Vertrauten des Staatspräsidenten Boris Tadic überlassen."

Die LANDESZEITUNG aus Lüneburg hält eine Einigung der "Demokraten" gar für unwahrscheinlich:

"Siege sind bisweilen trügerisch in einem Land, das eine militärische Niederlage zum nationalen Gründungsmythos erhoben hat. Und so trägt auch der Sieg des demokratischen Lagers bei den Wahlen in Serbien das Gift der Niederlage in sich. Der Optimismus von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, Serbien werde den Weg nach Europa einschlagen, wirkt etwas befremdlich. Zwar stimmten zwei Drittel der Serben für demokratische, EU-freundliche Parteien. Doch diese sind so zerstritten, dass eine Koalition unmöglich scheint."

Die Frankfurter MÄRKISCHE ODERZEITUNG sieht Sprengkraft vor allem in der Kosovo-Frage:

"Die als stärkste Kraft bestätigte Radikale Partei dürfte zwar kaum in die Regierung kommen. Aber auf die von Groß-Serbien träumenden Nationalisten muss jede Regierung bei der nun anstehenden Lösung der Kosovo-Frage Rücksicht nehmen. Ohnehin kann das emotionale Thema Kosovo, bei dem jeder Serbe Patriot sein möchte, schnell zum Stolperstein für j e d e Regierung in Belgrad werden."

Ähnlich sieht es die NEUE WESTFÄLISCHE aus Bielefeld:

"Dass im Kosovo die kulturelle Wiege Serbiens liegt, ist das eine. Dass den Kosovo-Albanern eine Art von Unabhängigkeit gewährt werden muss, ist das andere. Doch diese harte Wahrheit trauten sich selbst die Demokraten nicht zu verkünden. Ohne einen Kosovo-Kompromiss bleiben Europas Türen für die Serben verschlossen. Und ohne Europa hat das Land keine Zukunft. Auf die EU-Ratspräsidentin Angela Merkel kommt eine heikle Vermittlungsaufgabe zu."