1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Pressestimmen von Dienstag, 24. Juli 2007

Walter Lausch23. Juli 2007

Wahl in der Türkei

https://p.dw.com/p/BLPu

Die islamisch-konservative Regierungspartei hat die Parlamentswahl in der Türkei mit absoluter Mehrheit gewonnen. Für viele Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen wurde damit auch der europafreundliche Kurs von Ministerpräsident Erdogan bestätigt. Die BERLINER ZEITUNG schreibt:

' In der Türkei, genauso wie im Ausland, sind die meisten Menschen nur erleichtert. Denn mit dem Ja zum Religionsstaat, der Frauen unterdrückt, hat die Hinwendung von fast jedem zweiten türkischen Wähler zur AKP nichts zu tun, in ihr spiegelt sich kein Trend zu mehr Konservatismus oder zu einer Abkehr von Europa. All diese bedenklichen Haltungen kennzeichnen nicht die AKP, sondern die einzelnen Parteien der Opposition, die bei diesen Wahlen schmählich gescheitert sind. Der Wahlerfolg der AKP erlaubt es Erdogan, seinen Marsch nach Europa gestärkt fortzusetzen. Noch am Wahlabend hat er unterstrichen, dass er damit auch den Erwartungen der Bevölkerung entspreche.'

Damit er diesen Erwartungen entsprechen kann, fordert die Lüneburger LANDESZEITUNG mehr Unterstützung der EU für Erdogan:

'Wahlergebnisse können Weisheit atmen. Die geläuterten Islamisten wurden als Wahlsieger von den Wählern auf eine behutsame Politik verpflichtet. Das darf nicht anders sein in der Türkei, die auch künftig mit Minaretten und Bajonetten leben muss, deren Pole Allah und Atatürk sind. Die Polarisierung der Türkei macht den Beitrittsprozess für Europa zu einer Gratwanderung. Dabei reicht es für die EU nicht aus, vom reformfreudigsten türkischen Premier der vergangenen Jahrzehnte gebetsmühlenartig mehr Mut zu Reformen zu verlangen. Es ist an der Zeit, diesen Mut zu stärken, indem Europa den bereits vollzogenen Wandel honoriert. Die Beitrittsverhandlungen müssen den Charakter der Beitrittsverschleppung verlieren.'

Die LÜBECKER NACHRICHTEN unterstützen diese Meinung:

'Eine demokratisch fundierte Türkei, die zeigt, dass Islam, Demokratie und Freiheit sehr wohl zusammenpassen - für eine solche Türkei haben viele Türken jetzt gestimmt, sie weiter zu entwickeln haben die islamischen Realos um Erdogan bekräftigt. Europa sollte sie darin bestärken und beim türkischen Beitritt als ernst gemeinte Option bleiben'

Die WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU fordert dies auch, meint aber:

'Ein Jammer nur, dass dort mit Angela Merkel und Nicolas Sarkozy erklärte Gegner eines Türkei-Beitritts den Ton angeben. Die Verhandlungen finden mit angezogener Bremse statt und werden bei jeder Gelegenheit wieder in Frage gestellt. Die EU sollte jetzt das Signal der türkischen Wahlen aufgreifen. Sie gewinnt damit eine eigene Chance: ein demokratisches islamisches Land für Europa zu gewinnen.'

Die STUTTGARTER ZEITUNG befürchtet eine Zunahme der Konflikte in der Türkei:

'Die türkischen Wähler haben aller Welt klar gemacht, dass sie Demokratie ernst nehmen und dass sie auf dem Weg nach Europa weitergehen wollen. Der Versuch, Ängste liberaler Türken, Erdogan wolle in Wahrheit das Land islamisieren, zu instrumentalisieren, hat bei der Mehrheit der Wähler nicht verfangen. Die Konflikte aber werden zunehmen. Denn Erdogan hat einen klaren Auftrag erhalten, das Land noch umfassender und noch schneller zu reformieren, während die Generale vom Wähler indirekt aufgefordert worden sind, künftig in den Kasernen zu bleiben. Aber was tut eine Staatselite, welcher der Verlust der Macht droht und die zutiefst davon überzeugt ist, das Volk sei verblendet? Das weiß heute niemand.'

Aus Sicht der in Koblenz und Mainz erscheinenden RHEIN-ZEITUNG muss Erdogan deshalb entschieden einen Reformkurs einschlagen:

'Die Schonfrist ist vorbei: Recep Tayyip Erdogan muss nach dem überragenden Wahlsieg seiner islamisch-konservativen AKP den erlahmten Reformkurs entschlossen angehen. Die Bevölkerung hat den türkischen Ministerpräsidenten mit einem starken europäischen Mandat ausgestattet. Jetzt liegt es an ihm, zu beweisen, dass er die EU- Beitrittsperspektive nicht vor allem als Mittel nutzt, um die alten kemalistischen Eliten zu schwächen und das Land schleichend zu islamisieren.'

Die Bayreuther Tageszeitung NORDBAYERISCHER KURIER spricht die Punkte an, an denen Erdogan ansetzen müsste:

'Das beachtliche Wahlergebnis von 47 Prozent im Rücken, gut zwölf Punkte mehr als bei der letzten Abstimmung 2002, kann Erdogan die Reformen, die zwischenzeitlich ins Stocken geraten sind, nun wieder vorantreiben. Es geht um Meinungs- und Religionsfreiheit, die Rolle der Frau, Zypern, die Kurden. Ganz konkret etwa auch um den Strafrechtsparagrafen 301, der die Beleidigung des Türkentums ahndet und für Schriftsteller oder Journalisten zum Maulkorb wird. Jetzt soll die Türkei zeigen, dass sie auch auf diesen Feldern europatauglich ist.'

Die WESTDEUTSCHE ZEITUNG vertieft die innenpolitsche Ausgangslage:

'Die Wahl ist zudem eine Antwort des Volkes auf die Putschdrohungen der Militärs. Eine schallende Ohrfeige für die Generäle also. Aber es bleibt die Frage, ob der Generalstab das Ergebnis tatsächlich akzeptiert. Die AKP kann nun erneut versuchen, einen Präsidenten durch das Parlament wählen zu lassen. Oder sie wartet das Referendum über die Direktwahl des Staatsoberhaupts im Oktober ab. Auf den Anspruch auf dieses Amt wird die AKP wohl kaum verzichten können. Aber über allem schwebt weiter die Drohung des Militärs, gegen jeden Präsidenten zu putschen, der der AKP nahesteht.'

Auch die ESSLINGER ZEITUNG sieht Erdogan dem Druck der Miltärs ausgesetzt:

'Erdogan muss nun einen Ausweg aus der Krise finden, die mit der Putschdrohung des Militärs vor drei Monaten ihren Höhepunkt erreichte. Wird das Militär nach der misslungenen Präsidentschaftswahl des Außenministers Abdullah Gül jetzt einen AKP-Kandidaten akzeptieren? Erdogan ist klug beraten, die streng-säkularen Kreise nicht ganz zu verprellen und keinen neuen Kopftuch-Streit anzuheizen.'