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Pressestimmen von Dienstag, 26. April 2005

zusammengestellt von Stephan Stickelmann25. April 2005

Fischer Auftritt vor Visa-Untersuchungsausschuss

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Überragendes Kommentarthema der Tageszeitungen ist der Auftritt von Außenminister Joschka Fischer vor dem Untersuchungsausschuss zur Visa-Affäre. Zunächst ein Auszug aus dem Meinungsbeitrag der BERLINER ZEITUNG, die der Liveübertragung im Fernsehen durchaus positive Seiten abgewinnen kann - Zitat:

"Wer sich für das Funktionieren des politischen Betriebes und auch für sein Versagen interessiert, wird diese Verhandlung spannender finden als das parallel gesendete 'Strafgericht' bei RTL oder den psychologischen Ratgeber auf Sat 1. Joschka Fischer erklärt dem TV-Publikum im Stile eines Fernsehkollegs, was ein Visum eigentlich ist, der christdemokratische Chefankläger von Klaeden, der privat wahrscheinlich gerne amerikanische Anwaltsfilme sieht, versucht den großen Selbstdarsteller Fischer zu verunsichern, nicht ganz ohne Wirkung. Politiker, die dem Publikum sonst mit grobschlächtiger Polemik entgegen treten, tragen vor laufenden Kameras einen rhetorischen Wettbewerb mit Finessen aus - durchaus sehenswert, dieses Reality-TV. Dieser Ausschuss ist besser als sein Ruf."

Die OSTSEE-ZEITUNG aus Rostock lenkt den Blick auf Fischers Verhalten während der stundenlangen Befragung und konstatiert:

"Er war wieder der alte, wortgewandte, ausgebuffte Medienprofi. Während der Grünen-Politiker jovial Fehler und Versäumnisse einräumte, rechnete er zugleich mit der Opposition ab, der er dreist die Skandalisierung des Skandals um laxe Visavergaben vorwarf. Fast gelang es dem Außenminister, das Verhör umzudeuten in ein Plädoyer für Reisefreiheit und Liberalisierung. Aber dass unter Fischers Ägide massenhaft Visa-Missbrauch erst möglich geworden sei oder er Hilferufe der Botschaften ignoriert haben soll, konnte freilich so wenig belegt werden wie ein Versagen des Chefdiplomaten. Punktsieg Fischer."

Die MITTELBAYERISCHE ZEITUNG - sie erscheint in Regensburg - ergänzt:

"Je nach Szene produzierte sich Joschka Fischer gelangweilt, selbstgerecht, zerknirscht, belustigt, aufgeplustert, herablassend, nachdenklich, angriffslustig, geschwätzig, selbstkritisch oder sarkastisch. Die Befragung des Außenministers vor dem Untersuchungsausschuss zur Visa-Affäre war zumindest phasenweise von beträchtlichem Unterhaltungswert. Allerdings genoss die Veranstaltung vor allem zirzensische Qualitäten. Zur Aufklärung des Skandals wurde wenig Erhellendes beigesteuert."

Noch kritischer ist das Urteil des HANDELSBLATTS in Düsseldorf:

"Zu einer Sternstunde für Fischer wurde der vom TV übertragene Auftritt nicht. Denn das Medium Fernsehen bietet Profis und guten Rednern wie Fischer zwar eine besondere Chance: Der Außenminister nutzte sie durch seine bekannte Schlagfertigkeit. Aber das Medium verzeiht auch nichts. Und so werden die Zuschauer wohl neben dem witzigen auch den nervösen Fischer in Erinnerung behalten, der quälend lange nach einer Antwort auf die provokativ vorgetragene Frage suchte, ob man ein Ministerium so führen könne, wie er es praktiziere."

DIE WELT merkt an:

"Fischer versucht den dialektischen Trick: Ich war's zwar formal, aber es ist ja kein Schaden entstanden, für den ich an den Pranger muss. Doch dieser Trick funktioniert in der Befragung durch den Ausschuss nicht mehr: Zu sehr muss Fischer die Fakten biegen. Und zu oft kann er sich an sie gar nicht mehr erinnern. Wann er wie informiert war? Fehlanzeige. Wie die Warnungen des Innenministers weggeräumt wurden? Keine Ahnung. Was Fischer bei dieser Erinnerungsakrobatik vergisst, ist der Eindruck, den er hinterlässt: Der eines Ministers, der seinen Laden nicht im Griff hat."

In eine ähnliche Richtung geht schließlich der Kommentar des KÖLNER STADT-ANZEIGERS:

"Joschka Fischer macht es sich zu einfach, wenn er sagt, seinerzeit sei er der Überzeugung gewesen, vor allem in Kiew habe es sich um ein Personal- und Ressourcenproblem in der Visa-Abteilung gehandelt. Im Auswärtigen Amt musste der Sachverstand vorhanden sein, die Rückmeldungen überforderter Botschaften richtig zu deuten. Gefehlt hat es an der nötigen Rückkoppelung des Beamtenapparates zur Hausleitung. Fischer hat also nicht so sehr als Politiker, denn als Minister versagt. Sein Bekenntnis zur eigenen Verantwortung wird ohne Konsequenzen bleiben. Fischers Verbleiben im Amt mag Rot-Grün eine Atempause verschaffen, aber es schadet der politischen Kultur im Lande. Denn an der Spitze eines Ministeriums lassen sich nicht einfach Erfolge gegen Fehler aufrechnen, und es langt auch nicht, Missstände zu beheben. Nähme Fischer seine Ministerverantantwortung ernst, müsste er den Hut nehmen."