1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Pressestimmen von Dienstag, 8. November 2005

Reinhard Kleber7. November 2005

Koalitionsverhandlungen in Berlin / Krawalle in Frankreich

https://p.dw.com/p/7QMU

Union und SPD kommen bei ihren Verhandlungen zur Bildung einer großen Koalition voran. Einige Stolpersteine wie Renten und Föderalismusreform wurden bereits überwunden. Das wurde nach der fünften großen Runde der Koalitionsverhandlungen bekannt. Dagegen hakt es noch bei Steuern und Finanzen. Das alles liefert viel Stoff für die Kommentatoren der Zeitungen.

Besonders skeptisch äußert sich DIE WELT aus Berlin:

"Selbst dem ökonomisch ungebildeten Hollywood-Schauspieler Ronald Reagan leuchtete ein, was heute in Europa von einer akademisch hochdekorierten Umverteilungsbürokratie in kunstvollsten Ausschweifungen zerredet wird: Wenn der Staat den Leuten zuviel Geld abnimmt, leidet die Wirtschaft, gedeihen Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizite. Defizite sind vorübergehend kein Problem, solange sie durch wachstumsfördernde Maßnahmen (...) erzeugt werden. Von solchen Einsichten ist die Berliner Retro-Koalition meilenweit entfernt. Kann oder will die designierte Kanzlerin kein Zeichen setzen?"

Die NEUE WESTFÄLISCHE aus Bielefeld wendet sich dem Reizthema Steuererhöhungen zu:

"Die Überlegung von Franz Müntefering, den Spitzensteuersatz für sehr hohe Einkommen und gleichzeitig die Mehrwertsteuer zu erhöhen, ist vernünftig, weil dann alle Bevölkerungsschichten ihren Beitrag leisteten. Das darf aber erst geschehen, wenn alle Ausgaben deutlich zusammengestrichen worden sind. Dafür allerdings fehlt der Politik die Kraft, weshalb die ganze Steuererhöhungsdebatte viel zu früh kommt. Sie gestaltet nicht, sie kassiert ab und nimmt damit den Bürgerinnen und Bürgern den Optimismus, der für Investitionen und Wachstum nötig ist."

Die WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE aus Essen schreibt:

"Eine Reichensteuer als Preis für eine höhere Mehrwertsteuer - mit diesem Handel würde der SPD ein echter Coup gelingen. Einerseits könnte sie trotz Ermangelung besserer Ideen den Leuten sagen, die böse Union und nicht sie beschere ihnen die Steuererhöhung. Gleichzeitig könnte sie eines ihrer Wahlversprechen einlösen und den Eindruck vermitteln, sie greife den Reichen jetzt aber mal so richtig tief in die zugenähte Sakkotasche."

Einen Blick in die Zukunft wirft dagegen die Münchner TZ:

"Wenn es SPD und Union wirklich gelingt, bis zum Wochenende die Große Koalition zu schmieden, wird der Ruf 'Wahlbetrug!' erschallen. Denn die SPD wird Mehrwertsteuererhöhung und Aufweichung des Kündigungsschutzes zustimmen. Auch die Union wird Kröten wie Reichensteuer oder Verzicht auf die Kopfpauschale schlucken. Verwerfliche Abkehr von den eigenen Positionen oder unvermeidbare Kompromisse? Auch wenn wir Wähler uns dabei vergackeiert vorkommen - letztlich müssen wir Politikern zugestehen, dass es um mehr geht als um Rechthaberei im Detail."


Und nun zu einem zweiten Thema: Bei den Krawallen in Frankreich hat es ein erstes Todesopfer gegeben. Ein 61-Jähriger, der von Randalierern in einem Pariser Vorort niedergeschlagen worden war, erlag seinen Verletzungen. Derweil wächst die Sorge, dass solche Unruhen auch in Deutschland passieren könnten. Dies beschäftigt natürlich die Leitartikler der deutschen Tagespresse.

Welche politischen Konsequenzen werden die Krawalle haben? Diese Frage stellt sich die LANDESZEITUNG aus Lüneburg und betont:

"Das Entstehen von rechtsfreien Räumen darf der Staat nicht zulassen. Es gilt, das Gewaltmonopol des Staates wieder zurückzuerobern. Respekt muss aber auch der Schicht gegenüber erwiesen werden, die die Revolte der Aufständischen mit klammheimlicher Freude verfolgt. Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac könnte mit der Entlassung von Innenminister Sarkozy ein wichtiges Signal senden. Denn: Sarkozys menschenverachtende Rhetorik ist zwar nicht die Ursache des Aufstands, aber einer seiner Auslöser."

Das HANDELSBLATT aus Düsseldorf fragt dagegen: "Was bedeutet das alles für Deutschland?" und fährt fort:

"Auch wir haben unsere Erfahrungen mit Jugendgewalt bei den Chaostagen in Hannover und den Kreuzberger Nächten rund um den 1. Mai. Doch auch wenn gestern bereits in Berlin und Bremen die ersten Autos brannten, zu einem anarchischen Flächenbrand unten jungen Ausländern ist es bei uns noch nicht gekommen. Noch schaffen wir es, trotz vieler Versäumnisse, Immigranten in der Mitte unserer Gesellschaft zu halten. Doch der Grat wird schmaler."

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG lesen wir dazu:

"Zu Recht wird auf die Unterschiede zwischen «rechtsfreien Zonen» in französischen Städten und sozialen Brennpunkten in Deutschland hingewiesen. Vergleichbar ist aber in beiden Ländern die Ignoranz, mit der Politik und Gesellschaft auf das Anwachsen sozialen Zündstoffs vor ihrer Haustür reagieren. Für die Erhaltung von Privi- legien öffentlich Bediensteter kann in Frankreich noch immer die ganze Republik lahmgelegt werden. Für eine Politik, die auch den Unterschichten Bildungs- und Aufstiegschancen eröffnet, sind dann nur noch Beruhigung-spillen da, die keine Wirkung haben."

Die MÄRKISCHE ALLGEMEINE aus Potsdam gibt zu bedenken:

"Es sind bislang nur wenige Autos in Deutschland in Flammen aufgegangen. Kein Vergleich zu dem Flächenbrand im Nachbarland. Und es spricht wenig dafür, dass der französische Funke auf deutsche Vorstädte überspringt. Dennoch gibt es Grund zur Sorge. Die explosive Gemengelage, die in Frankreich zur Gewalteruption führte, gehört in Berliner Problemkiezen wie Moabit und Neukölln längst zum Alltag."