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Pressestimmen von Donnerstag, 19. April 2007

Christoph Schmidt 18. April 2007

Schäuble gegen Unschuldsvermutung / Christenmorde in der Türkei

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Bundesinnenminister Schäuble sorgt in der Diskussion um die innere Sicherheit weiter für Wirbel. Kaum hat er den Plan einer zentralen Fahndungsdatei für Fotos und Fingerabdrücke ins Gespräch gebracht, stellt er das Prinzip der 'Unschuldsvermutung' in Frage. Sie gilt theoretisch für jeden Verdächtigen oder Angeklagten bis zu seiner Verurteilung. In den Pressekommentaren bleibt Schäuble damit weiterhin Dauergast. Ein weiteres Thema dieser Presseschau ist der blutige Überfall auf ein christliches Verlagshaus in der Ost-Türkei.

Die STUTTGARTER ZEITUNG meint zu dem jüngsten Vorstoß des Innenministers:

"Schäuble ist der Vorwurf zu machen, dass er mit missverständlichen Äußerungen den Eindruck erweckt, der Staat sehe sämtliche Bürger als Verdächtige. Natürlich gelten für den Verfassungsschutz andere Regeln als für Staatsanwälte und Richter. Doch Schäuble animiert zu der Spekulation, er könnte Präventivmaßnahmen im Sinn haben, die eher einem Polizeistaat als einem Rechtsstaat gemäß sind. Der Minister fühlt sich diffamiert, wenn ihm unterstellt wird, das Grundgesetz aushöhlen zu wollen. Doch er ist fahrlässig dabei, das Vertrauen in die Sicherheitsorgane zu untergraben."

Der WIESBADENER KURIER meint:

"Wo leben wir eigentlich? In einem Rechtsstaat? Es wird schwieriger, diese Frage noch mit Ja zu beantworten. Schon gar, wo niemand die terroristische Gefahr für Deutschland auch nur annähernd konkret belegen kann. Es stinkt zum Himmel, dass interessierte Kreise in dieser Republik in Panik machen, um das Überwachungsnetz immer lückenloser zu knüpfen. Dabei reichen die bestehenden Gesetze mit ihren Fahndungsmöglichkeiten sehr wohl aus. Es muss bei dem Grundsatz bleiben: Im Zweifel für den Angeklagten."

Die ALLGEMEINE ZEITUNG aus Mainz kommentiert:

"Kaum eine Woche, in der der Innenminister nicht mit neuen Ideen aufwartet. Das Ganze wirkt mittlerweile wie eine politische Teststrecke, auf der er ausprobiert, was geht und was nicht. Was Schäuble da vorschlägt, ist jedoch rechtlich völlig abgesichert. Weil er das jedoch nicht ausdrücklich sagt, ist sein Ansatz in die Kritik geraten. Die Unschuldsvermutung ist nur vor Gericht relevant und nicht für die vorgelagerten Aktivitäten bei der Terrorabwehr. Wer ihm unterstellt, er wolle den Rechtsstaat aushebeln, tut ihm Unrecht. Wer ihm nachsagt, er sei auf einem Kreuzzug, kommt der Wahrheit näher."

In der Münchner ABENDZEITUNG heißt es:

"Die Unschuldsvermutung schützt nicht vor Ermittlungen im Falle eines Verdachts, und niemand bei Trost will Polizeiarbeit im Anti-Terror-Kampf behindern. Nur verlangt der Rechtsstaat einen fairen Prozess, ein Urteil. Schäuble will nicht mehr so lange warten. Wer verdächtig ist «Araber, Vollbärtige, Moslems, Bewohner im Bahnhofsviertel», hat schon verloren. Das ist der Geist von Guantánamo - eines Verfassungsministers absolut unwürdig."

Themenwechsel: Eben noch hatte der türkische Ministerpräsident als Gast in Deutschland für den EU-Beitritt seines Landes geworben, da gerät es gleich wieder in die Schlagzeilen. Diesmal durch brutale Morde an drei Christen, darunter ein Deutscher. Bei dem Überfall auf ein Bibel-Verlagshaus in der Ost-Türkei geht die Polizei von nationalistischen Tätern aus. Das Verbrechen wirft erneut ein trübes Licht auf die Situation der christlichen Minderheit in dem islamischen Staat.

Dazu schreibt der MANNHEIMER MORGEN:

"Der Hass der türkischen Nationalisten ist offensichtlich grenzenlos: Die grausamen Morde an Christen in Malatya beweisen, zu welchen brutalen Mitteln die Fanatiker inzwischen greifen. Christen werden von einigen Nationalisten inzwischen als Feinde des Landes stigmatisiert, die Übergriffe mehren sich - immer häufiger mit tödlichem Ausgang. Der Vorwurf, die Missionare würden die politischen und religiösen Institutionen untergraben, ist absurd: Immerhin leben in der Türkei mit ihren 70 Millionen Einwohnern gerade einmal 100 000 Christen."

Der Bonner GENERAL-ANZEIGER meint:

"Nach dem Blutbad in Malatya soll niemand behaupten, dass es verrückte Einzelgänger waren, die den drei Christen kaltblütig die Kehlen durchschnitten. Diese Schutzbehauptung hat sich abgenutzt in den vergangenen 15 Monaten, in denen der katholische Priester Andrea Santoro in Trabzon und der armenische Journalist Hrant Dink mitten in Istanbul von Männern ermordet wurden, die anschließend als fehlgeleitete Einzeltäter dargestellt wurden. Die Mitarbeiter des angegriffenen christlichen Verlags klagten schon seit Jahren darüber, dass örtliche Behörden und Parteipolitiker die Bevölkerung gegen sie aufhetzen würden."

In der BERLINER MORGENPOST heißt es:

"Egal, ob der bestialische Mord an Mitarbeitern eines Bibel-Verlags in Malatya auf das Konto radikaler Islamisten geht oder die Tat von gewöhnlichen Kriminellen verübt worden ist: In der Wahrnehmung der Menschen im Westen ist die Türkei wieder ein Stück weit von Europa weggerückt. Der winzigen christlichen Minderheit werden, wo es nur geht, administrative Hindernisse in den Weg gelegt. Demgegenüber genießen türkische Muslime in Deutschland alle Vorzüge des Grundgesetzes. Die jetzigen Morde sind ein weiterer Schlag gegen die Europatauglichkeit der Türkei."

Und die STUTTGARTER NACHRICHTEN stellen fest:

"Fast 85 Jahre nach Gründung der Republik als laizistischem Staat, in dem auch die christlichen und jüdischen Minderheiten zuhause sein sollen, steht dieses Verfassungsbürgertum nach wie vor nur auf dem Papier. Die Überzeugung, dass nur ein moslemischer Türke ein echter Türke sein kann, prägt weiter die nationale Identität. Die Angehörigen der auf 0,5 Prozent zusammengeschrumpften nicht- moslemischen Minderheiten bekommen das an jeder Ecke zu spüren. Einzelfälle sind das nicht."