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Pressestimmen von Freitag, 11. Oktober 2002

Reinhard Kleber10. Oktober 2002

Koalitionsverhandlungen in Berlin / Kopftuch-Urteil des Bundesarbeitgerichts / Literatur-Nobelpreis für Kertesz

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Die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen befassen sich vor allem mit den Streitpunkten bei den Koalitionsgesprächen in Berlin und dem Kopftuch-Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Ein weiteres Thema ist der Literatur-Nobelpreis für den ungarischen Autor Imre Kertesz.

Zu den rot-grünen Koalitionsverhandlungen lesen wir in der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG:

"Von der Aufbruch- zur Katerstimmmung. Rot-Grün ist drauf und dran, die zweite vom Wähler gegebene Chance bereits am Start zu vermasseln. Statt klare Konzepte für die Zukunft vorzulegen - denn alle sind sich darüber im Klaren, dass es ohne Einschnitte im Gesundheits- und Sozialbereich nicht gehen kann - wird um Posten und Pöstchen gerangelt. Nach dem kleinlichen Gezerre der letzten Tage deutet immer weniger darauf hin, dass Rot-Grün den Mut zur großen Reform findet. Dabei nimmt jeder Patient für seine Heilung auch schmerzhafte Eingriffe in Kauf."

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG sieht die SPD bereits im Verhandlungsrückstand:

"Während die Grünen zielstrebig ihre Leib-und-Magenthemen einbringen und inzwischen schon diverse Punktsiege errungen haben (Wehrpflicht, Verkehrspolitik), hat der große Partner offenbar noch immer Schwierigkeiten, seine Prioritäten zu sortieren. Mit einer Orgie von Steuererhöhungsvorschlägen hat die SPD zudem den Eindruck vermittelt, sie habe erst nach der Wahl zu überlegen angefangen, wie sie finanziell über die Runden komme. Die Grünen dagegen wissen genau was sie wollen. Das verschafft ihnen einen Vorsprung am Verhandlungstisch."

Zum Kopftuch-Urteil schreibt die FRANKFURTER RUNDSCHAU:

"Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass eine moslemische Verkäuferin nicht gekündigt werden darf, weil sie im Geschäft ein Kopftuch trägt. Die Richter stellen das Grundrecht der Religionsfreiheit über die wirtschaftlichen Erwägungen eines Arbeitgebers, der Probleme mit der Kundschaft befürchtet. Hätten die Richter anders entschieden, wenn die Verkäuferin von Kopf bis Fuß verhüllt vor die Kunden getreten wäre? Ist sie aber nicht. Toleranz ist nicht nur eine Sache der Mehrheit gegenüber einer Minderheit. Auch diese ist aufgefordert, ihre Besonderheiten mit Maß zu propagieren. Toleranz ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Das ist, zugegeben, kein juristisches Argument. Wohl aber ein Weg der Verständigung, ohne alle juristischen Instanzen zu bemühen."

Der MANNHEIMER MORGEN merkt zu diesem Thema an:

"Das Urteil ist so richtig wie wichtig. Letztlich geht es um ein Symbol, das aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden muss. Zum einen verbindet man das Kopftuch mit fanatischem, anti-westlichem Islamismus. Andererseits bedecken gerade in Deutschland viele junge Frauen ihr Haupt als Ausdruck ihres persönlichen Glaubens, ohne sich der Gesellschaft deshalb zu verschließen. Sie tun eigentlich nichts anderes als Christen, die sich ein Kreuz um den Hals hängen oder einen Jesus-Fisch aufs Auto kleben. Also gilt es abzuwägen zwischen dem individuellen Recht auf Religionsausübung und dem, was das Kopftuch anderen bedeuten mag."

Themenwechsel: Der neue Literaturnobelpreisträger aus Ungarn veranlasst die Zeitung DIE WELT zu dieser Stellungnahme:

"Dass Kertész jetzt mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird, darf man als Zeichen dafür werten, dass die Einheit Europas nicht nur als Konsequenz politischer und ökonomischer Rationalität begriffen wird, sondern auch als ein geistiges Projekt. Die intellektuellen Antennen werden - endlich wieder, 13 Jahre nach der großen Wende - von neuem nach Osten ausgerichtet. Dort spielt die Musik des Westens."

Abschließend zitieren wir den NORDKURIER aus Neubrandenburg:

"Die deutsche Aufmerksamkeit verdienen der Ungar und sein Werk mit Recht. Führt er doch die immer wieder verqueren Antisemitismus- Debatten hier zu Lande, die sich eigentlich an der Wortwahl für den Rückgriff auf den Holocaust festfahren, ad absurdum. Mit seiner Erzählsprache schildert Kertész diese Menetekel sensibel und distanziert und zeigt, dass man gedanklich durch die Dornenhecke der Geschichte hindurch muss, um wirkliche Gedankenfreiheit zu erlangen. Mit dieser Nobelpreis-Entscheidung wird eine Literatur gewürdigt, in der sich der Leser mit seinem Denken an einer Geschichte messen kann, zu der er scheinbar keine Beziehung mehr hat."