1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Pressestimmen von Freitag, 24. November 2006

Christoph Schmidt23. November 2006

Wowereit wiedergewählt / Urteil zu Hartz IV

https://p.dw.com/p/9QXx
Für Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit geriet seine Wiederwahl zur Zitterpartie. Erst im zweiten Durchgang erhielt er im Abgeordnetenhaus eine knappe Mehrheit. Zuvor hatten zwei Mitglieder seiner Koalition aus SPD und Linken gegen ihn gestimmt. Die Pressekommentare prophezeien Wowereit eine schwierige Regierungszeit. Ein weiteres Thema dieser Presseschau ist das Urteil des Bundessozialgerichts zur Höhe des Arbeitslosengelds II.

Die LÜBECKER NACHRICHTEN schreiben zur Wahl in Berlin:

"Klaus Wowereit hat mehr als einen Denkzettel verpasst bekommen. Sein Stolperstart in die zweite rot-rote Legislaturperiode ist ein Menetekel. Der Regierende Bürgermeister kann sich nicht auf die Loyalität seiner knappen Mehrheit verlassen. Im ersten Wahlgang fiel er durch, im zweiten fehlte ihm noch immer eine Stimme aus dem Koalitionslager. Missmut und Misstrauen regieren im Roten Rathaus von Berlin. Keine guten Voraussetzungen für einen Neustart. Kommen dann noch Selbstherrlichkeit und Fehler hinzu, wie sie sich Wowereit seit dem Wahltag leistete, ergibt das ein brisantes Gemisch."

Die NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG meint zum knappen Wahlausgang:

"Im rot-roten Bündnis sitzen mindestens zwei unsichere Kantonisten. Wowereit muss sich fragen lassen, wie er mit diesem Wackelbündnis die Probleme der hochverschuldeten Stadt lösen will. Eine breitere Koalitionsbasis wäre nötig und möglich gewesen. Wowereit hatte die Wahl - und hat sich vergriffen. Für höhere Aufgaben in SPD und Bundespolitik kommt er auf absehbare Zeit nicht in Frage."

Die ALLGEMEINE ZEITUNG aus Mainz kommentiert:

"Gerade noch mal gut gegangen für Klaus Wowereit. Und - ist das gut so? Gut so für die Bundeshauptstadt Berlin, die - wäre sie ein Unternehmen - längst Insolvenz anmelden müsste? Welche persönlichen oder politischen Ränkespiele auch immer hinter dem Eklat vom ersten Wahlgang stecken: Der Vorgang führt dramatisch vor Augen, auf welch dünnem Eis sich der rot-rote Senat bewegt. Ob Rot-Rot auf dieser Basis die Legislaturperiode überlebt, erscheint zweifelhaft."

Und im TAGESSPIEGEL aus Berlin heißt es:

"Niederlagen machen Politiker auch stärker, sagt man, haben sich auch immer die ganz Großen gesagt, von Willy Brandt bis zu Helmut Kohl. Aber das hier in Berlin ist eine Niederlage in einer anderen Liga. Das ist ein Stimmergebnis, das ihn vom Ministerpräsidenten mit Anwartschaft auf mehr zum Bürgermeister stutzt. Es schwächt Berlin in seinen Ansprüchen gegenüber anderen Ländern, wenn der, der sie vorträgt, um seine Legitimation kämpfen muss. Wer seine eigenen Leute nicht überzeugen kann, wie will der andere gewinnen, die seiner Stadt sowieso skeptisch gegenüberstehen?"


Themenwechsel: Empfänger von Arbeitslosengeld II dürften enttäuscht sein - der Bundesfinanzminister hingegen aufatmen. Das Bundessozialgericht hat entschieden: Das ALG II ist verfassungsgemäß und muss nicht erhöht werden. In den Pressekommentaren wird das Urteil sehr unterschiedlich bewertet.

Die MÄRKISCHE ODERZEITUNG stellt fest:

"Wirklich erstaunen können die Entscheidungen des Gerichts nicht. Denn was wäre passiert, wenn die Richter erkannt hätten, dass 345 Euro im Monat nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt eines Menschen zu bestreiten. Das Hartz-IV-Gesetz hätte grundlegend überarbeitet werden müssen. Was den Staat Milliarden von Euro kosten würde. Geld, das er nicht hat. Insofern haben die Bundessozialrichter den Zeitgeist getroffen. Sinn für Realität aber haben sie nicht bewiesen."

Die FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND befürwortet das Urteil:

"345 Euro plus Miete lassen wenig Spielraum, aber sie reichen für ein einfaches Leben. Öffentliche Einrichtungen bieten längst Vergünstigungen für Alg-II-Empfänger an, auch am Markt gibt es entsprechende Angebote, etwa gebrauchte Möbel und Kleider. Über das eigentliche Problem hat die Öffentlichkeit erst vor kurzem unter dem Stichwort 'Unterschicht' diskutiert: Es sind die Haushalte, denen die Fähigkeiten und manchmal der Wille fehlen, sich selbst zu organisieren und aus ihrer Lage herauszuarbeiten. Ihnen wäre mit 20 Euro mehr auch nicht geholfen."

Auch die OSTTHÜRINGER ZEITUNG aus Gera hält die Entscheidung der Bundesrichter für vernünftig:

"Es war gerade die Idee von «Hartz-IV», die hohen Ansprüche an den Sozialstaat aus wirtschaftlich besseren Zeiten wieder enger zu fassen. Das war und ist Wille des Gesetzgebers, über den sich auch die Justiz nicht hinwegsetzen kann. Genau das aber haben die Sozialgerichte zuletzt immer wieder getan. Teures Auto, große Eigentumswohnung und obendrein «Alg 2» vom Steuerzahler - genau dem sollte «Hartz IV» einen Riegel vorschieben, damit der Sozialstaat sich auf die wirklich Bedürftigen konzentriert und auch in Zukunft finanzierbar bleibt."

Die Rostocker OSTSEE-ZEITUNG sieht dagegen Grund zur Kritik:

"Hartz IV wurde der Prozess gemacht. Doch am Ende ging er verloren. Der Winkel für die Rutsche in die Armut bleibt steil. Denn was sind heute 345 Euro? Sie reichen zwar aus, um nicht zu verhungern, aber eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist den betroffenen Menschen bei dieser Mager-Summe weitgehend verwehrt. Kinokarte, Theaterticket oder die Mitgliedschaft im Sportverein können sich viele, die oft unfreiwillig unten angekommen sind, nicht mehr leisten. Und im nächsten Jahr wird alles noch schlimmer."