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Pressestimmen von Mittwoch, 23. November 2005

Annamaria Sigrist und Günther Birkenstock22. November 2005

Angela Merkel ist Bundeskanzlerin

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Der Machtwechsel in Deutschland ist vollzogen, Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt und die neue schwarz-rote Regierung in Amt und Würden. Fast alle deutschen Tageszeitungen widmen ihre Kommentare diesem Thema.

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG aus München betont die Wahl Angela Merkels als späten, aber entscheidenden Schritt in der Geschichte der Gleichberechtigung:

"Dreißig Jahre nachdem die Vereinten Nationen das internationale Jahr der Frau ausgerufen haben, beginnt es nun auch in Deutschland. Natürlich war die Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin keine Rechts-, sondern eine Machtfrage. Aber die Durchsetzung dieser Macht und ihre künftige Ausübung wird dem Gleichheitssatz mehr Kraft verleihen, als ein paar neue Paragrafen es können. Es gibt Symbole, die Rechtskraft haben. Die Tatsache, dass eine Frau zum Kanzler gewählt wurde, ist ein solches Symbol."

Dass eine Frau, noch dazu eine aus dem Osten Deutschlands, Bundeskanzlerin geworden ist, bewertet die MÄRKISCHE ODERZEITUNG aus Frankfurt an der Oder als außerordentlich positiv:

"Freuen wir uns über ein Stück Normalität in der deutschen Einheit. Und warum nicht eine Frau? Israel, Indien, Großbritannien, Norwegen: Golda Meir, Indira Ghandi, Margaret Thatcher, Frau Brundtland. Sie alle ware großartige Führerinnen ihrer Länder. Und auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts hat die Kanzlerschaft einer Frau als nichts anderes mehr zu gelten denn als Nachweis für das Funktionieren der im Grundgesetz verankerten gesellschaftlichen Normen. Es hat egal zu sein, ob Mann oder Frau im Kanzleramt regieren; wenn sie es denn nur tun. Wenn sie es nur möglichst gut und solide tun."

Angela Merkel hatte bei der Wahl zur Kanzlerin auch Gegenstimmen aus den eigenen Reihen hinnehmen müssen: Für die LÜBECKER NACHRICHTEN eine Nebensächlichkeit, die nicht über den politischen Erfolg Merkels entscheiden wird.

"Ob Merkels Regierung die volle Legislatur überstehen und das System nicht ernsthaft beschädigt wird, hängt nicht von ein paar Stimmen mehr oder weniger ab. Auch nicht davon, wie die Mundwinkel der Kanzlerin sich verziehen oder was sie trägt. Entscheidend wird sein, ob es Fortschritte bei Wachstum und Beschäftigung geben wird."

Die THÜRINGER ALLGEMEINE aus Erfurt schreibt:

"Es ist nicht die Stunde der Erbsenzähler. Ob 397 oder 400 Stimmen, das ist für den weiteren Verlauf der Dinge völlig unerheblich. Angela Merkel wurde, auch wenn es viele immer noch nicht glauben wollen, mit satter Mehrheit zur ersten Frau an die Spitze einer deutschen Regierung gewählt. Das Einzige, was jetzt wirklich zählt, ist, wie schnell es die neue Regierungsmannschaft packt, Tritt zu fassen. Vor allem, ob es gelingt, an den üblichen und in der Regel zähen Verfahren vorbei, rasch Akzente zu setzen, die dafür sorgen, dass die übliche Miesepetrigkeit ein Ende nimmt."

Auch für die TZ aus München sind die Gegenstimmen bei der Wahl Merkels zur Kanzlerin zu vernachlässigen, vor allem wenn man berücksichtigt, welche Hindernisse sie bereits überwunden hat.

"Sie ist am Ziel, ist erste ostdeutsche Kanzlerin der wiedervereinigen Bundesrepublik. Doch Angela Merkels Weg ins Kanzleramt war kein Triumphzug, sie holperte über tiefe Schlaglöcher an die Macht: verkorkster Wahlkampf, enttäuschendes Unions-Ergebnis, schwierige Regierungsbildung. Und auch die Kanzlerwahl war bei 51 fehlenden Stimmen alles andere als ein Traumstart. Übertrieben, darin gleich ein böses Omen für künftige Entscheidungen zu sehen: Die Mehrheiten sind so komfortabel, dass die Abgeordnetendisziplin zwangsläufig darunter leidet."

Die EßLINGER ZEITUNG hebt Angela Merkels Herkunft als Chance für notwendigen politischen Pragmatismus hervor:

"Das Amt zu erringen, ist das eine. Es so auszufüllen, dass Deutschland gute Zukunftsperspektiven hat, etwas anderes. Vielleicht kommt Angela Merkel dabei ihre Herkunft aus den neuen Bundesländern zugute. Sie hat als Naturwissenschaftlerin in der DDR gelernt, sich mit unabänderlichen Verhältnissen zu arrangieren und dennoch Freiräume zu ertrotzen."

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG rät Merkel vor allem, den Reformflügel der SPD in die staatspolitische Verantwortung zu ziehen.

"Gelänge es der Kanzlerin, die Sozialdemokratie für ein Reformbündnis zur Erneuerung Deutschlands zu gewinnen, das diesen Namen auch verdiente, dann könnte diese Koalition wirklich eine große werden. Sie hätte die nötigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zum 'Durchreformieren'. Doch ist die Abhängigkeit von der künftigen Linie der SPD auch die größte Schwäche der neuen Kanzlerin. Der Koalitionspartner ließ sie schon bei ihrer Wahl spüren, daß er nicht an bedingungslose Gefolgschaft denkt."

Die KÖLNISCHE RUNDSCHAU bemerkt abschließend:

"Dem nüchternen Start soll nun genauso nüchtern an der Realität orientierte Politik folgen. Endlich wird wieder regiert. Schnell muss es gehen. Angesichts der Steuererhöhungen für 2007 muss das kommende Jahr einen konjunkturfördernden Stimmungsumschwung bringen. Deshalb zählt jeder Tag. Gelingt in den nächsten zwölf Monaten keine Belebung des Arbeitsmarktes wird das Bündnis in die Krise stürzen."