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Pressestimmen von Montag, 13. März 2006

Thomas Grimmer12. März 2006

Milosevic gestorben / Arbeit des UN-Kriegsverbrechertribunals

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Der ehemalige jugoslawische Präsident Milosevic ist am Wochenende tot in seiner Zelle aufgefunden worden. Der 64-Jährige war vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen schwerer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Der Tod des Ex-Diktators und die Arbeit des Gerichts finden breite Beachtung in den Leitartikeln der deutschen Tagespresse.

Die TAZ aus Berlin kritisiert das Tribunal:

"Dass ein Urteil vor Milosevics Tod nicht zustande kam, hat trotz der Dementis von Chefanklägerin Carla del Ponte das UN-Tribunal in Den Haag zu verantworten. Über vier Jahre zog sich der Prozess hin. Milosevic gelang es lange Zeit sogar, den Prozess als Propagandabühne zu nutzen. Nach dem Durcheinander bei der Zeugenauswahl fiel es schwer, eine Strategie der Prozessführung der Anklage zu erkennen."

Der Kommentator des KÖLNER STADT-ANZEIGER schreibt dagegen:

"Selbst wenn das Gerichtsurteil im Fall Milosevic ausbleibt, war das Verfahren nicht vergeblich. Die Verdienste des UN-Strafgerichtshofes für das frühere Jugoslawien sind groß. Das Gericht hat, was in den 90er Jahren unvorstellbar schien, einen Staatspräsidenten auf die Anklagebank geholt. (...) Es hat in insgesamt 160 Verfahren Kriegsverbrechen aufgeklärt und mit Hilfe zahlreicher Aussagen und Geständnisse die Wahrheit unwiderlegbar herausgearbeitet. So ist das Tribunal einen großen Schritt weiter gegangen als die Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Täter des Dritten Reiches. Auch das Haager Gericht kann Unrecht nicht ungeschehen machen, aber es kann Legenden und Lügen entlarven und so den Weg in eine zivilisierte Zukunft ebnen."

Die FRANKFURTER RUNDSCHAU meint:

"Der Druck auf Belgrad und die dort heute Verantwortlichen, mit dem Haager Tribunal zu kooperieren und die noch Flüchtigen festzunehmen und auszuliefern, muss aufrechterhalten werden. Die Opfer und Überlebenden der Balkankriege, aber auch die Gerechtigkeit und die Werte des Humanismus verlangen, dass den Tätern der Prozess gemacht wird. Das Urteil über Milosevic wird nun nicht das Haager Tribunal sprechen, sondern die Geschichte."

Der Bonner GENERAL-ANZEIGER sieht das Gericht vor neuen Aufgaben:

"Der Auftrag des Haager Tribunals, des ersten seiner Art und einer epochalen Neuerung im Völkerrecht, ist mit diesem Rückschlag nicht erloschen. Eine Reihe von Verurteilten verbüßt bereits ihre Strafe. Beschuldigte aus allen Lagern stehen noch vor Gericht. Und zwei der schlimmsten Täter, der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic und sein blutiger General Ratko Mladic, halten sich noch immer versteckt. Nur ihr Prozess kann noch einen Teil der Antworten geben, die Milosevic jetzt mit ins Grab nimmt."

Die RHEIN-ZEITUNG aus Koblenz ist derselben Ansicht:

"Die EU muss endlich die Auslieferung der Milosevic-Komplizen Karadzic und Mladic erzwingen, den Prozess gegen sie schnell und offen führen und so das umsetzen, was der Tod von Milosevic vereitelt hat. Und den Serben die Hand zur Freundschaft noch ein Stück näher hinhalten."

Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG zieht eine ernüchternde Bilanz des Verfahrens:

"Den Haag und seine Chefanklägerin Carla Del Ponte stehen nach einem vierjährigen Prozess-Puzzle und mühsamster Beweisaufnahme vor den Trümmern ihrer Arbeit. (...) Ein Urteil in diesem Prozess um Völkermord während des Balkankrieges kann nicht mehr gefällt werden. Es ist ein Sieg post mortem, den Milosevic als Triumph über ein Gericht davonträgt, dass er selbst nie anerkannt hat. Rein juristisch betrachtet, geht der serbische Sozialistenchef damit als Unschuldiger in die Geschichtsbücher ein. Ein Albtraum für die Opfer und Hinterbliebenen des Massakers von Srebrenica."

Auch der Leitartikler der STUTTGARTER ZEITUNG kritisiert:

"Es gelang den Richtern und Anklägern nicht, den Prozess in einer angemessenen Geschwindigkeit voranzubringen. (...) Fast noch schlimmer ist der Verdacht, man kümmere sich um die Häftlinge nicht pflichtgemäß. Bereits drei Angeklagte haben sich selbst getötet, Milosevic wurde erst Stunden nach seinem Tod gefunden, obwohl die Zellen eigentlich jede halbe Stunde kontrolliert werden müssten. (...) Eine sensible Institution wie das UN-Tribunal kann sich solche Angriffspunkte nicht erlauben."

Die FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND aus Hamburg lobt die Arbeit der Richter in Den Haag:

"Der Prozess bleibt unvollendet. Ein Fehlschlag ist er darum nicht. (...) Viele hatten es zuvor für ausgeschlossen gehalten, dass es überhaupt gelingen kann, die geistigen Väter monströser Verbrechen wie der in Bosnien zu fassen zu bekommen. Wenn im Geschichtsunterricht in zehn oder 20 Jahren auf den Milosevic-Prozess zurückgeblickt wird, dann wird im Vordergrund nicht stehen, dass er abgebrochen wurde. Sondern dass er überhaupt stattfand."

Die NEUE RUHR/NEUE RHEIN ZEITUNG ist der Ansicht, dass die Arbeit der Richter auch nach dem Tod Milosevics weitergehen muss:

"Das Tribunal in Den Haag hat sich bisher durchaus rechtliches Ansehen verschafft. Zum ersten Mal wäre ein Urteil gegen einen Staatschef ergangen. (...) Ersatzweise rücken jetzt die serbischen Auftragskiller Karadjic und Mladic in den Fokus der Anklage. Die Beweisaufnahme wird an den Fall Milosevic erinnern. Beide Verderber Bosniens entstammen politisch und militärisch dem Belgrader Arsenal. Insofern entschwindet die Problematik nicht aus dem Gesichtskreis. Auch wenn sich die Trotzhaltung in Belgrad jetzt verhärten sollte, wird die überfällige Festnahme umso dringender. Mit dem Makel der Mordbrennerei darf niemand ins europäische Haus."