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Pressestimmen von Samstag, 26. November 2005

Annamaria Sigrist25. November 2005

Sanierung des deutschen Haushalts / Urteil im Fall Jessica

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Bei den Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen dominieren zwei Themen: die Sanierung des deutschen Haushalts und das Urteil des Hamburger Landgerichts im Fall der verhungerten siebenjährigen Jessica. Zunächst zur geplanten Haushaltssanierung: Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung will die Bundesregierung Staatsvermögen in zweistelliger Milliardenhöhe verkaufen. Bei den Kommentatoren stößt dies auf Zustimmung aber auch auf Skepsis.

So schreibt die HEILBRONNER STIMME:

"Selbst wenn dies beschönigend 'Privatisierung' genannt wird: Schwarz-Rot plant den Ausverkauf des letzten Tafelsilbers. Oder biegt sich Finanzminister Steinbrück den Haushalt nur nach der Devise seines Vorgängers zurecht: verscherbeln, umbuchen, schön- rechnen? Die angedachten Notverkäufe sind zunächst nur Luftbuchungen. Sie offenbaren aber die Finanzkrise, in der Deutschland steckt. Sie legen die Befürchtung nahe, dass die bislang bekannten Kürzungen und Steuererhöhungen nur die halbe Wahrheit sind. Es kommt noch schlimmer."

Die TAZ aus Berlin lobt zwar die Sparpläne, doch sie fordert ein differenzierteres politisches Programm.

"Auch innenpolitisch macht Merkel Eindruck. Sie verteidigt die Zu- mutungen für Beamte und Rentner, für Steuersparer und künftige Eigenheimbesitzer sachlich und unzweideutig. (...) Damit trifft sie, angesichts des Haushaltslochs, den richtigen Ton. Es ist kein Zufall, dass Merkel derzeit sogar bei Anhängern der Grünen und Linkspartei gute Noten bekommt. Wer sich bei allen unbeliebt macht, ist gerade deshalb beliebt. (...) Doch wenn man sich das politische Programm der großen Koalition anschaut, verfinstert sich das Bild abrupt. Es erschöpft sich bislang eben in - Sparen, Sparen und Sparen. Und das reicht nicht."

Die KIELER NACHRICHTEN ergänzen:

"Doch gibt es ein Konzept für die Zeit danach? Nutzt die Koalition den Zeitgewinn, um den Haushalt endlich umzustrukturieren? Zweifel sind angebracht. Denn auch die neue Bundesregierung setzt finanzpolitisch auf das Prinzip Hoffnung: Sie hofft auf höhere Einnahmen aus den Gewinnen der Bundesbank, sie hofft auf unverändert niedrige Zinsen und sie hofft auf eine rasche Erholung der Konjunktur im nächsten Jahr, damit die Mehrwertsteuererhöhung ab 2007 nicht alles wieder abwürgt. Der Bürger kann nur die Daumen drücken. Misslingt die Kalkulation, muss er es ausbaden."

Der NORDBAYERISCHE KURIER aus Bayreuth schließlich kritisiert die Personalpolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

"Da werden Rivalen ruhig gestellt, Proporzansprüche befriedigt, Parteizirkel gestärkt. Gerade Angela Merkel hat in der zweiten Reihe der Regierung einige ihrer engsten Verbündeten untergebracht: Von Peter Hintze (Wirtschaft) über Hildegard Müller (Kanzleramt) bis Friedbert Pflüger (Verteidigung). Ausgerechnet solche De-Luxe-Staatssekretäre sollen also für mehr Bürgernähe sorgen und den Leuten erklären, warum sie jetzt den Gürtel enger schnallen müssen. Keine gute Idee, Frau Kanzlerin!"

Themenwechsel: Das Hamburger Landgericht hat die Eltern der verhungerten siebenjährigen Jessica wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Schicksal des Mädchens hatte bundesweit Entsetzen ausgelöst. Die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen werfen immer wieder die Frage auf, wie derartige Mißhandlungen so lange unbemerkt bleiben konnten.

Dir FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG schreibt dazu:

"Das Höchstmaß an Gefühllosigkeit, mit der Vater und Mutter das qualvolle Sterben ihres Kindes herbeiführten, ist mit dem höchsten Strafmaß geahndet worden, das unser Recht dafür vorsieht. Breites Entsetzen rief der Fall aber auch hervor, weil niemand diesem erbar- mungslosen Elternpaar in den Arm fiel... Am Fall Jessica zeigen sich die Vereinzelungszustände der modernen urbanen Gesellschaft. Stadt und Staat haben nach diesem Menetekel zu überlegen, wie sie Leib und Leben von Kindern schützen können, deren Eltern nicht mehr Eltern sind."

Der MANNHEIMER MORGEN bemerkt:

"Die Eltern der kleinen Jessica hatten die Tochter Jahre lang in ein dunkles, kaltes Zimmer gesperrt und sehenden Auges verhungern lassen. Das Mädchen starb unter Höllenqualen, wog zum Schluss noch knapp zehn Kilo. Das Hamburger Landgericht hat die Eltern dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Gefühl der Genugtuung kommt gleichwohl nicht auf, eher Trauer, Verzweiflung, Ratlosigkeit. Denn jeder Versuch, diese Grausamkeit zu erklären, läuft ins Leere."

Das COBURGER TAGEBLATT ergänzt:

"Die Tatsache, dass in unserer Wohlstandsrepublik ein Kind wie eine Gefangene gehalten und schlechter als die Katze versorgt wurde, muss jeden alarmieren. Wie ist es möglich, dass kein Nachbar, keine Behörde etwas mitbekommt? Wir sehen den Nächsten nicht mehr. Wie kann man solchen Schrecklichkeiten vorbeugen? Das geht nur durch Hinschauen, durch Interesse am anderen, notfalls durch Einmischung. Wenn Eltern sich als unfähig erweisen, muss der Staat handeln."

Die STUTTGARTER ZEITUNG versucht hinter die Kulissen zu sehen:

"Die Menschen lernen das, was sie erleben. Die Mutter, die zur Mörderin ihres Kindes geworden ist, war als Kind selbst Opfer von Verwahrlosung und Gewalt. Die Gleichgültigkeit und die soziale Verwahrlosung beginnen überall dort, wo die Fähigkeit zum Mitgefühl und wo der Respekt gegenüber anderen, vor allem gegenüber schwächeren Menschen schwindet. In Hamburg haben zwei ungewöhnlich schwache Menschen ihr eigenes Kind, eines der schwächsten Glieder dieser Gesellschaft, getötet."

Der SCHWARZWÄLDER BOTE schließlich klagt die Gesellschaft an:

"Schlechte Eltern wird es immer geben, ebenso träge Schulbehörden und versagende Jugendämter. Entscheidend ist deshalb, dass wir alle uns wieder mehr für unsere Nachbarn interessieren und notfalls mutig eingreifen statt wegzusehen. Denn das ist die einzige Gerechtigkeit, die wir diesem Kind noch erweisen können."