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Pressestimmen von Samstag, 27. August 2005

zusammengestellt von Frank Gerstenberg26. August 2005

Die Union und die EU-Mitgliedschaft der Türkei

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Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel hat bei mehreren europäischen Regierungschefs schriftlich darum geworben, die Türkei nicht als Vollmitglied in die Europäische Union aufzunehmen. Das Schreiben ist beherrschendes Thema in den Leitartikeln der deutschen Tageszeitungen.

Die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG kommentiert die Haltung der CDU zur Türkei so:

"Provozieren um zu emotionalisieren - nur so besteht Aussicht, der satten und zufriedenen Unions-Klientel noch einmal Beine zu machen, meint der Hesse Koch. Und der kennt sich aus. Mit ihrem EU-Rundbrief zur Türkei trippelt die Kanzlerkandidatin ein wenig in seine Richtung."

Der Bonner GENERAL-ANZEIGER hält die Initiative Merkels für unnötig:

"Wahlfavoritin Angela Merkel sagt, dass sie am liebsten überhaupt nicht mit den Türken über einen Beitritt verhandeln würde. Dabei könnten sich die Türkei-Skeptiker in der EU ihre Mühe eigentlich sparen: Die Türkei wird nach dem 3. Oktober bei den Verhandlungen keineswegs aufs Tempo drücken. Für Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist der 3. Oktober das alles entscheidende Datum. Schafft er es, die Türkei ohne größeren Schaden für den Nationalstolz in den EU-Verhandlungsprozess zu bugsieren, hat er sein größtes Ziel erreicht."

Dagegen glauben die KIELER NACHRICHTEN, dass die Kanzlerkandidatin den richtigen Zeitpunkt gewählt hat.

Denn: "Anders als bei ihrem letzten Vorstoß für das Modell der 'privilegierten Partnerschaft' kann Merkel diesmal mit mehr Zustimmung rechnen. Die gescheiterten Verfassungsabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden haben auch in anderen Ländern die Rufe verstärkt, das Tempo aus der Annäherung zu nehmen. Angela Merkel kann als wahrscheinlich nächste Bundeskanzlerin mit dem Gefühl nach Brüssel reisen, es schon immer gewusst zu haben. Es wäre töricht gewesen, diese Karte jetzt nicht auszuspielen."

Ähnlich sieht es die SÜDWEST PRESSE aus Ulm:

"Der Brief von Merkel und Stoiber zur EU-Mitgliedschaft der Türkei ist, was Zeitpunkt und Tonlage betrifft, von kluger Zurückhaltung. Zur Kanzlerkandidatin, die einen sehr sachorientierten Wahlkampf betreibt, hätte es auch nicht gepasst, jetzt so laut aufs Blech zu hauen, wie es einige Hardliner in den eigenen Reihen wohl erhofft hatten. Ihrem eigentlichen Ansinnen hätten CDU und CSU ansonsten auch geschadet. Denn nach dem vorläufigen Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags wird in manchem EU-Staat das Thema Erweiterung aus anderem Blickwinkel gesehen. Dazu trägt Ankara seinen Teil bei. Denn es tut sich mit der faktischen Anerkennung Zyperns noch schwer, die als Voraussetzung für den Verhandlungsbeginn mit der EU vereinbart wurde."

Anderer Meinung ist die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Düsseldorf:

"Bisher haben die Vernünftigen in der Unionsspitze der Versuchung widerstanden, das Thema Türkei in populistischer Wahlkampfmanier auszuschlachten", schreibt das Blatt und fährt fort:

"Aus gutem Grund. Erstens ist keineswegs sicher, dass platte Stimmungsmache Wechselwähler überzeugt. Zweitens könnten sich der CDU wohlgesonnene türkischstämmige Wähler persönlich betroffen fühlen und abgeschreckt werden. Und drittens hält sich der mögliche Koalitionspartner FDP strikt an die EU-Marschroute und zeigt keine Neigung, die Zusagen Brüssels an Ankara in irgendeiner Weise in Frage zu stellen."

Hören Sie zum Schluss noch einen Kommentar der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, die sich mit den Wahlchancen der Unions-Kandidatin befasst:

"Vor vier Wochen schien völlig klar, dass die CDU-Kanzlerkandidatin einen fulminanten Wahlsieg feiern kann. Das wird von Tag zu Tag weniger wahrscheinlich. Wenn sie eine tragfähige Mehrheit für eine Koalition mit der FDP verpasst, beginnt ihre Regierungszeit mit einem Makel. Nicht, weil man bedauern müsste, dass die FDP weiterhin in der Opposition bliebe. Das wäre bei der personellen Ausstattung der Liberalen zu verschmerzen. Sollte sie gezwungen sein, eine große Koalition mit den Sozialdemokraten zu bilden, würden Stoiber, Koch und Wulff gleich wieder ihre Wortführer vorschicken, um ihr den zweitschönsten Sieg als Niederlage anzulasten."