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Politik

Print am Pranger

21. Juli 2017

Haben deutsche Zeitungen während des Flüchtlingszuzugs versagt? Eine Studie scheint das zu belegen. Ihr Fazit: Die Leitmedien standen im Dienste der Regierung und rührten kräftig die Trommel für die Willkommenskultur.

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Symbolbild Presse in Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/M. Gerten

Die Medien sind Schuld, sie haben das Thema Flüchtlinge 2015/16 volkspädagogisch im Sinne Angela Merkels begleitet. Und sie haben ihr Kerngeschäft, distanziert komplexe Entwicklungen zu erklären, nicht wahrgenommen. Stattdessen haben sie Regierungspolitik betrieben und dem Volk die Willkommenskultur geradezu verordnet.

Der Redakteur als Pädagoge

Der Vorwurf ist nicht neu, kam aber bislang stets aus der rechten AfD-Ecke. Neu ist hingegen, dass nun eine seriöse, wissenschaftliche Studie deutsche Zeitungen und ihre Flüchtlingsberichterstattung massiv kritisiert. Nach Auswertung von tausenden Zeitungsartikeln, vor allem der vier großen Leitmedien Süddeutsche Zeitung (SZ), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Die Welt und der Bild-Zeitung kommen die Autoren der knapp 200-Seiten starken Studie zu dem Ergebnis, Herr Redakteur und Frau Redakteurin hätten sich als Volkserzieher hervorgetan, statt kritisch zu berichten.

Ungarn Flüchtlinge in Budapest machen sich zu Fuß Richtung Deutschland auf
Ungarn im September 2015: Tausende Flüchtlinge machen sich auf den Weg Richtung Deutschland Bild: picture-alliance/epa/Z. Balogh

Da der groß angelegten Untersuchung der Hamburg Media School und der Universität Leipzig auch die Auswertungen von 85 Regionalzeitungen zugrunde liegen, darf der Studie Repräsentativität unterstellt werden. Finanziert wurde sie durch die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung. Wer sich, so der Tenor der Autoren, zwischen Februar 2015 und März 2016 kritisch gegenüber dem Flüchtlingszuzug zu Wort gemeldet habe, der stand unter Generalverdacht fremdenfeindlich zu sein.

Mit moralischem Impetus

Auch Ansichten des Teils der Bevölkerung, "die aus vielerlei Gründen die Vollzugspolitik skeptisch bis kritisch verfolgte", so die Autoren, "wurden nicht ernsthaft in die Debatte einbezogen." Die Willkommenskultur, von der Bundesregierung protegiert, sei durch die Printmedien zu einer "Art Zauberwort" verklärt worden. Auch sei auffällig intensiv moralisch berichtet worden. Das Flüchtlingsthema sei stellenweise mit "zu viel Gutmensch-Sentimentalität und zu wenigen kritischen Nachfragen an die Zuständigen" behandelt worden.

Tatsächlich seien unter den rund 35.000 begutachteten Artikeln nur sechs Prozent authentisch recherchierte Berichte, bzw. Reportagen zu finden gewesen. Dieser Befund gilt vor allem für die drei großen Leitmedien, SZ, FAZ und Welt. Jeder fünfte Text dieser Blätter war kommentierend - ein "ungewöhnlich hoher Anteil", konstatiert der verantwortliche Leiter der Studie, der Medienwissenschaftler Michael Haller.

Kritische Distanz nicht durchgehalten

Sträflich vernachlässigt in der Berichterstattung wurden demnach insbesondere die Hauptakteure des Großthemas. Auf die Helfergruppen und verschiedenen Institutionen, die sich um die Flüchtlinge kümmerten, entfielen ganze 3,5 Prozent der redaktionellen Beiträge. Auch Experten, die beispielsweise über ethnische Besonderheiten bei den Ankommenden hätten befragt werden können, wurden nur in einem von 100 Artikeln registriert. Stattdessen sei das gesellschaftlich hoch kontroverse Thema nahezu abstrakt als Thema der institutionalisierten Politik behandelt worden.

Berlin Ankunft der Flüchtlinge im Herbst 2015 Jubel
Begeisterung für Flüchtlinge, die im September 2015 in Berlin ankommen Bild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

43 Prozent aller in dem Untersuchungszeitraum zu Wort gekommenen Akteure waren der Studie zufolge Vertreter der Bundesregierung, der Ministerien, der Parteien. Grüne Politiker durften sich doppelt so häufig zum Thema via Zeitungsbericht äußern wie Politiker der Linken. Die AfD, inzwischen in zahlreichen Parlamenten vertreten, kam praktisch nicht vor (0,1 Prozent).

Politik und Presse im "geschlossenen Kommunikationsraum"

Die Studien-Autoren sprechen von einer "ausgeprägten Dominanz der politischen Elite", die mit Hilfe der Medien (in diesem Fall der Printmedien) das Thema beherrschen. Und zwar ganz eindeutig im Sinne der beiden Koalitionsparteien. Kritische Distanz wird in der Hälfte der untersuchten Beiträge nicht durchgehalten. Schlimmer noch: Politik und Medien hätten sich beim Thema Flüchtlinge in genau dem "geschlossenen Kommunikationsraum" bewegt, "den viele Ausgegrenzte in ihren Kommentaren mit 'Mainstream' und 'Systempresse' etikettieren".

Deutschland Merkel Selfie mit Anas Modamani
Startschuss für die Willkommenskultur: Angela Merkel als Lieblingsmotiv für Flüchtlinge und ihre Selfies Bild: Getty Images/S. Gallup

Aufs Ganze gesehen haben die untersuchten Zeitungen zu 83 Prozent sehr bis eher positiv über das Flüchtlingsthema berichtet und damit das Leitbild der Willkommenskultur mitgeprägt. Über Bedenkenträger und deren Argumente wurde nur am Rande berichtet. 

Eine Studie mit Nachwehen

Die Studie lese sich bisweilen so, schreibt zeit.de, "als hätten die Wissenschaftler dem Wunsch hinterher geforscht, die Branche am Kragen zu packen und einmal kräftig durchzuschütteln". Zeit Online war nicht an der Studie beteiligt. Der Eindruck wird stärker, wenn die Autoren die mediale Reaktion nach den Kölner Silvesternacht-Übergriffen von jungen männlichen Migranten auf Mädchen und Frauen bilanzieren. Diese Verletzung der Willkommenskultur hat bei vielen zu einer Korrektur in der Haltung zum Flüchtlingsthema geführt. Die Kritik wächst - auch in den Medien. "Es entsteht der Eindruck", so die Autoren, "als wollten viele Journalisten jetzt überfleißig nachholen, was sie zuvor versäumt hatten."

Auch wenn die Studie nicht widerspruchsfrei ist - wenn sie beispielsweise der FAZ zugesteht in "vielen" Kommentaren gegen eine unbegrenzte Aufnahme der Flüchtlinge plädiert zu haben - kommt die Untersuchung einer schallenden Ohrfeige für die Medien gleich. Die umso schmerzhafter für die Branche ist, als das die Aussagen der Studie im Kern auch auf die TV-Berichterstattung zutrifft. Auch wenn die aus Zeitgründen nicht gesondert analysiert wurde.

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Volker Wagener Redakteur und Autor der DW Programs for Europe