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Prinzip Hoffnung

Oliver Samson13. Juni 2004

Selten ist eine deutsche Mannschaft mit so wenig Erfolgsaussichten zu einem großen Turnier gefahren. Die spärlichen Hoffnungen gründen sich auf die Schwächen der anderen - und auf den eigenen Mythos.

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Auf der Suche nach einer Mannschaft: Teamchef Rudi VöllerBild: AP

Es war eigentlich alles wie immer: Die deutsche Nationalmannschaft erwischte mit ihrem sprichwörtlichen Losglück eine relativ leichte Gruppe für die Qualifikation zur Europameisterschaft 2004 und wurstelte sich irgendwie durch. Mit wenig glanzvollen Siegen in Freundschaftsspielen gegen Kroatien (2:1) und Belgien (3:0) bog das Team von Rudi Völler auf die Zielgerade zur EM 2004 ein - ehe der ganz grobe Ausrutscher kam: Am 28. April 2004 wurde das deutsche Team in Bukarest von den nicht für die EM qualifizierten Rumänen mit 1:5 vorgeführt. Zur Halbzeit hatte es 0:4 gestanden. Das ist einer deutschen Nationalmannschaft zuletzt vor über 90 Jahren passiert. "Wursttruppe", tobte die "Bild"-Zeitung.

Dieses 1:5 machte deutlich, dass Vize-Weltmeister Deutschland durchaus das passieren könnte, was bei der letzten Europameisterschaft 2000 in Belgien und Holland als größte anzunehmende Blamage in die DFB-Annalen einging: Der totale Zerfall einer Mannschaft, die schonunglose Demonstration der taktischen Rückständigkeit im internationalen Vergleich - und als Resultat das Aus in der Vorrunde.

Übertüncht statt beseitigt

Dass der deutsche Fußball im europäischen Vergleich erheblich hinterherhinkt, wurde durch den Erfolg bei der der Weltmeisterschaft 2002 nur übertüncht und nicht beseitigt. Trainernovize Rudi Völler hatte seinem Team in Japan und Korea einen grandiosen Teamgeist eingeimpft. Spieler wie Kahn, Metzelder, Ballack, Schneider, Frings und Klose befanden sich auf dem oberen Scheitelpunkt ihrer Fomkurve und zusammen mit der überaus günstigen Auslosung führte der Weg schließlich ins Finale nach Yokohama.

Und nun, im Vorfeld der EM? International konnten deutsche Mannschaften seit der WM wenig bewegen und schieden in allen europäischen Wettbewerben frühzeitig aus - ein Fingerzeig für den international noch immer vorhandenen Rückstand in technischer und taktischer Hinsicht. Die Nationalmannschaft hat alle Spiele gegen Gegner von Format verloren - und muss bei der EM schon in der Vorrunde einen der beiden Topmannschaften Tscheschien und Holland hinter sich lassen, um nicht frühzeitig die Heimreise antreten zu müssen.

Formschwäche der Leistungsträger

"Wir sind nicht die Favoriten", weiß Mittelfeldspieler Dietmar Hamann. Zumal sich die vermeintlichen Leistungsträger zuletzt in erschreckender Verfassung zeigten: Oliver Kahns litt - vor allem in wichtigen Spielen - augenscheinlich unter Auswirkungen seines Image- und Lifestyle-Wandels. Der Shooting-Star der WM, Christoph Metzelder, ist auf unabsehbare Zeit verletzt. Michael Ballack ruft seine einst bewiesene Leistungsstärke nur sporadisch ab. Miroslav Klose ließ sich von der Verunsicherung in seinem Verein anstecken und ramponierte sich schwer das Knie. Und es hat durchaus tragischen Witz, dass sich der als Jahrhundertalent gehandelte Hoffnungsträger Sebastian Deissler Anfang 2004 wegen schwerer Depressionen in stationäre Behandlung gab.

Am Ende der diesjährigen Bundesliga-Saison befanden sich eigentlich nur der dritte Torhüter, Timo Hildebrand (VfB Stuttgart), das Kölner Sturmwunderkind Lukas Podolski, die Saisonentdeckung Phillip Lahm (Stuttgart) und mit Abstrichen Torsten Frings und der Christian Wörns in EM-tauglicher Form.

Auf der Suche nach einer Mannschaft

Rudi Völler hat bis zum ersten Spiel der EM gegen die Niederlande (15.6.) noch viel zu tun. Er wird versuchen seine Mannschaft stark zu reden und eine irgendwie wettkampftaugliche Formation zu finden. Ob sich die nach dem traditionellen Vorbereitungs-Scheibenschießen gegen einen Fußballzwerg (27.5., diesmal Malta), gegen die Schweiz (2.6.) und gegen die international eher drittklassigen Ungarn (6.6.) gefunden haben wird, ist fraglich.

"Alle haben Angst"

Was bleibt, sind die Hoffnungen auf mögliche Schwächen der Gegner: Dass die Tschechen entgegen aller Wahrscheinlichkeit einbrechen, wie unlängst beim peinlichen 0:1 gegen Japan. Dass die Holländer sich mal wieder zerstreiten. Dass die Stars der anderen müde sind von den internationalen Wettbewerben. Dass sich der Trend zum Favoritensterben aus der Champions-League fortsetzt. Oder dass sich vielleicht doch der alte Mythos von der deutschen Turniermentalität anschlägt: "Wir treten an als Deutschland, vor diesem Gegner haben alle Angst", knurrte unlängst Oliver Kahn in einem Interview. Alle haben Angst vor Deutschland - das scheint die größte Hoffnungschimmer für ein Wunder von Lissabon zu sein. Jetzt müssen nur auch die Gegner wissen, dass sie sich zu fürchten haben. Oliver Kahn ist sicher der richtige Mann, um daran arbeiten.