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"Probelauf für Weg zum Präsidialsystem"

Andreas Gorzewski17. Mai 2016

Das türkische Parlament hat in einer ersten Abstimmung für die Aufhebung der Abgeordneten-Immunität entschieden. Am Freitag findet die zweite Runde statt. Für Asli Aydintasbas geht es jedoch eigentlich um Erdogans Macht.

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Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP am 23.06.2015 im türkischen Parlament
Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP wären von einer Aufhebung der Immunität besonders betroffenBild: Getty Images/AFP/A. Altan

Deutsche Welle: Geht es bei den beiden Abstimmungsrunden im türkischen Parlament in dieser Woche nur um die Frage, ob einige Abgeordnete ihren parlamentarischen Schutz vor Strafverfolgung verlieren?

Asli Aydintasbas: Erdogan lotet die Möglichkeiten aus. Es ist ein Probelauf für eine andere Abstimmung über die Ausweitung seiner Machtbefugnisse als Präsident. Nach der türkischen Verfassung hat die Präsidentschaft eher eine symbolische Rolle. Erdogan will darüber hinaus auch exekutive Befugnisse. Diese übt er de facto bereits aus, aber er will das auch auf einer verfassungsrechtlichen Basis tun.

In was für einer politischen Atmosphäre findet die Abstimmung statt?

Ich sehe diese Abstimmung unter dem Eindruck des wachsenden Nationalismus als einen Testballon. Die Regierung versucht, die nationalistische Stimmung in der Türkei anzuheizen. Sie hat mit den Ultranationalisten der Partei MHP im Parlament ein Bündnis in dieser Frage.

Betroffen von einer Aufhebung der Immunität wären vor allem Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP. Ihnen wird eine Nähe zur als Terrororganisation eingestuften Kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. Was würde konkret passieren, wenn die Immunität aufgehoben würde?

Wir wissen aus AKP-Kreisen, aus den Medien und aus Äußerungen des Präsidenten, dass eine bestimmte HDP-Abgeordnete unmittelbar vor Gericht gestellt werden sollte, weil sie an der Beerdigung eines PKK-Mannes teilnahm. Sie kann bisher wegen ihrer Immunität nicht vor Gericht gestellt werden, aber sie wird vermutlich die Erste sein, die man ins Gefängnis stecken möchte. Darüber hinaus wird HDP-Führer Selahattin Demirtas als ein möglicher Kandidat [für eine juristische Verfolgung] genannt. Es gibt bereits einige Verfahren gegen ihn.

Würde die Inhaftierung pro-kurdischer Abgeordneter die inner-türkischen Konflikte - auch den zwischen Türken und Kurden - noch weiter verschärfen?

Die Folgen würden vermutlich nicht über das hinausgehen, was in der Südost-Türkei und anderen Teilen des Landes ohnehin schon geschieht, wie die Inhaftierung von Journalisten und Verstöße gegen Verfassungsrechte. Für uns in der Türkei wäre das alles nichts wirklich Neues, denn wir erleben längst eine schwierige Zeit.

Was heißt das für die Demokratie in der Türkei?

Das ist ein weiteres Anzeichen für die undemokratische Ordnung, die heute in der Türkei errichtet wird. In der Türkei ist die Trennung der politischen Gewalten nicht mehr vollständig. Das Parlament kann nicht ordnungsgemäß arbeiten und die Justiz auch nicht. Das Parlament ist nicht länger ein funktionierendes Organ, das Gesetze verabschiedet. Viele Ausschüsse und die Arbeit des Abgeordnetenhauses liegen auf Eis.

Könnte Präsident Erdogans Plan, die Befugnisse seines Amtes auszuweiten, aufgehen?

Natürlich kann das passieren, vor allem, weil Erdogan eine nahezu umfassende Kontrolle über die Medien, die Bürokratie und gewissermaßen auch über das Parlament hat. Für einen umfassenden Wandel des Systems fehlt aber die Macht. Deshalb verfolgt die AKP die Idee einer teilweisen Verfassungsänderung, die nur vier oder fünf Artikel umfasst. Damit soll Erdogan exekutive Machtbefugnisse erhalten, das Kabinett einberufen können und seine Verbindung zur AKP wahren können [Anm. d. Red.: Erdogan hat die konservative Regierungspartei AKP mit begründet. Als Präsident soll er bislang jedoch über den Parteien stehen]

Wird das Gesetz zur Aufhebung der Immunität im Parlament die erforderliche Mehrheit finden?

Ich denke, es wird nicht die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit geben, damit das Vorhaben Gesetzeskraft erhält - aber genug Stimmen, um ein Referendum darüber anzusetzen. Dafür sind zwischen 330 und 367 Stimmen nötig. Wichtig ist die zweite Abstimmung am Freitag, dann wird entschieden.

Asli Aydintasbas ist Wissenschaftlerin und Türkei-Expertin der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Sie arbeitete als Journalistin für verschiedene türkische Medien.

Das Gespräch führte Andreas Gorzewski.