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26. September 2011

DW-Korrespondentin Bettina Kolb reiste nach Arbil im Irak und begleitete das National Youth Orchestra of Iraq während seiner Proben vor dem Auftritt beim Beethovenfest. Hier die Fortsetzung ihrer Eindrücke vor Ort.

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Die Zitadelle über Arbil
Zitadelle über ArbilBild: Tariq Hassoon

Kurdische Musik hämmert zur Mittagszeit aus einem weißen Kleinbus, der in einem Furcht einflößenden Tempo eine vierspurige Straße entlang donnert, sorglosen Radfahrern ausweicht, Kurven auf gefühlten zwei Rädern nimmt. Der ganze Bus bebt, denn drinnen tanzen der 20-jährige Flötist Waleed und seine Freunde im typisch kurdischen Stil. Wer nicht tanzt, der klatscht und feuert mit gellenden Rufen die fünf Jungs an, die selbst in der waghalsigsten Kurve nicht das Gleichgewicht verlieren.

Ich jedenfalls falle beim Versuch, die Szene zu filmen, mal auf die Cellistin links neben mir, mal auf die Violinistin rechts neben mir. Aber das stört die beiden jungen Damen nicht. So wild ist also ein arabisch-kurdisches Orchester auf dem Weg zum Mittagessen in ein Kantinen-Restaurant. Spontanparties dieser Art gibt es immer wieder. Und das ist das Besondere an diesem Orchester: Bei den Proben sind sie lernhungrig und konzentriert dabei, aber sobald die Instrumente weggepackt sind, wird gelacht, geredet und ausgelassen das Leben gefeiert. Nicht trotzig, sondern heiter.

Eine Musikerin des NYOI mit geschlossenen Augen bei einer Probe
Manchmal fallen die Augen nachmittags zuBild: Tariq Hassoon

Zu den Proben erscheint Komponist Ali Authman, ein in den Niederlanden lebender Kurde. Im Auftrag der Deutschen Welle hat er das Stück "Invocation" komponiert. "Ein Gebet", wie er sagt, "das Frieden zwischen den Menschen schaffen soll." Mit den Violinen geht er letzte Feinheiten durch - den Rhythmus will er anders betont haben. Die Erschöpfung nach den vielen langen Probentagen ist deutlich zu sehen. In den kurzen Pausen liegt ein Viola-Spieler auf dem Boden und döst. Eine Cellistin rutscht fast vom Stuhl, das Cello noch zwischen den Beinen.

Stadtbummel in Arbil

In der Mittagspause begleite ich die Violinistin Aya, den Oboisten Murat und Flötist Waleed in die Altstadt von Arbil. Eine bunte Truppe: eine Araberin aus Bagdad mit Punkfrisur und orangefarbenen Fingernägeln, ein Journalist und Orchestermusiker aus Bagdad und ein Musiklehrer aus dem kurdischen Kirkuk. Im Mittelpunkt von Arbil liegt die Zitadelle, die auf 5000 Jahre geschätzt wird. Eine Trutzburg, der sich schon Alexander der Große und Dschingis Khan gegenüber sahen. Drum herum: Marktszenen auf dem Basar. Saft- und Obststände leuchten in Orange und Granatapfel-Rot. Die Scheine der Geldwechsler türmen sich in Bergen auf klapprigen Tischen. Händlerrufe aus allen Richtungen. Gebirge aus Süßigkeiten türmen sich auf, leuchten in jeder denkbaren Pastellfarbe. 

Unsere Gespräche drehen sich um die Sicherheit. Alle drei sind sich einig: Das Leben im Irak sei ganz normal. "Gefährlich? Nein, das ist es nicht mehr. In den letzten Jahren hat sich viel verändert", sagt Aya. Ich frage skeptisch nach Autobomben und extremistischen Kräften und bekomme ein Schulterzucken als Antwort. Vielleicht sind sie einfach die Journalistenfragen nach dem gefährlichen Leben im Irak leid, vor allem in Bagdad.

Aprikosenkonfekt als Nervennahrung

Murat erzählt lieber von seiner schönen Verlobten, einer türkischen Oboistin, die er im vergangenen Jahr während der Sommerschule des Orchesters in Arbil kennen gelernt hat. "Sie ist mein schönstes Geschenk, das ich durch das Orchester bekommen habe," erzählt er. Jetzt ist es ihm vor allem wichtig zu heiraten und einen Ort zu finden, an dem beide leben können. Nein, nach Bagdad wolle er sie nicht holen. Das sei für sie zu schwierig.

Waleed ist losgelaufen, um für die beiden anderen süßes Aprikosenkonfekt zu kaufen. "Lecker, willst du probieren?" Ihm ist es wichtig, hier neue Freunde zu finden. "Wie soll ich denn sonst wissen, ob die jungen Leute in Bagdad genauso verrückt nach Musik sind wie ich?", fragt er. Und als ich wissen will, ob die Leute hier auf der Straße wissen, wer Beethoven ist, stimmt Aya seine 5. Symphonie an: "Ta Ta Ta Taaaa! Klar, das machen alle hier sofort, wenn man sie fragt." Ob das in Deutschland jemand könnte, wenn man nach einem irakischen Komponisten fragt? Jetzt ist erst mal wichtig, welche der leuchtenden Süßigkeiten gekauft werden soll. Nervennahrung, gleich geht die Probe weiter.

Eine Statue hält Ausschau vor der antiken Zitadelle in Arbil
Eine Statue vor der antiken Zitadelle in Arbil überwacht die StadtBild: Tariq Hassoon

Familienbesuch mit Datteln und Bratsche

Am Abend bin ich bei der Familie von Alan und Darwn eingeladen. Die beiden Brüder spielen Geige und Bratsche. Wie zwei weitere Musiker kommen sie direkt aus Arbil. Am Tor zum zweistöckigen Haus der Familie warten schon die Mutter, die kleine Schwester und zwei ältere Brüder. Sie fallen sich in die Arme, die Küsse fliegen hin und her. Seit einer Woche haben sie sich nicht gesehen, denn wie alle anderen wohnen Alan und Darwn im Hotel. Frische Datteln und Feigen werden gereicht, süßes Gebäck, und alle reden fröhlich durcheinander.

An der Wand hängt ein Foto des Vaters, eines Künstlers, der vor zwei Jahren verstorben ist. Er hat seine Söhne ermutigt, ein Instrument zu lernen und sie immer unterstützt. Stolz strahlt ihre Mutter Najat, eine resolute, herzliche und weltoffene Frau mit lachenden tiefbraunen Augen. "Meine Söhne werden in Deutschland spielen, ist das nicht wunderbar", sagt sie. Auch sie liebt mittlerweile Beethoven. "Aber es war schlimm, als die beiden anfingen zu üben", lacht sie. "Gott sei Dank können sie jetzt spielen." Seit acht Jahren musizieren die Brüder. Nur der älteste Bruder verzieht das Gesicht, als Darwn seine Bratsche auspackt: "Bitte, nicht schon wieder Klassik." Gelächter, noch mehr Süßigkeiten. Und durch die heiße Nacht leuchtet der Vollmond.

Autorin: Bettina Kolb
Redaktion: Marita Berg/ suc