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Protest gegen Fremdenfeindlichkeit in Russland

30. März 2006

In Russland häufen sich fremdenfeindliche Überfälle: ausländische Studenten werden totogeprügelt, selbst Kinder attackiert. Nun regt sich Widerstand gegen die Gewalt. Doch die Gründe für Fremdenhass liegen tiefer.

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In Sankt Petersburg kam es auch schon zur Schändung jüdischer GräberBild: dpa

Am 25. März hat in Sankt Petersburg ein Marsch gegen Faschismus und Fremdenfeindlichkeit stattgefunden. An der Aktion nahmen etwa 300 Vertreter politischer Parteien und Menschenrechtsorganisationen teil, darunter Mitglieder der Partei Jabloko, der Union rechter Kräfte (SPS), der Bewegung Oborona (Verteidigung) sowie des Komitees der Soldatenmütter.

Auf der Kundgebung wurde vor allem die Gleichgültigkeit der Russen beklagt. "Blut fließt auf unseren Straßen und wir schauen dem gleichgültig im Fernsehen zu", beklagten die Teilnehmer der Aktion. Der Marsch wurde aus Protest gegen die Morde am Menschenrechtler Nikolaj Girenko, dem Studenten und Antifaschisten Timur Katscharawa, der sechsjährigen Nilufar Sangbojewa und der neunjährigen Churscheda Sultanowa aus Tadschikistan, am vietnamesischen Studenten Wu An Tuan sowie an dem Studenten aus Kamerun Leon Kanchem durchgeführt. Alle Opfer wurden in diesem und vergangenen Jahr getötet. Die Demonstranten protestierten ferner gegen den Freispruch der Tatverdächtigen im Fall Sultanowa.

Unterdrückte Zivilgesellschaft

Der Leiter des Forschungszentrums für Fremdenfeindlichkeit und Extremismus der Russischen Akademie der Wissenschaften, Emil Pain, sagte im Gespräch mit der Deutschen Welle zu den Gründen für die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Russland: "Wenn in einer Gesellschaft die Institute einer Zivilgesellschaft unterdrückt werden, wenn die Jugend keine Möglichkeit hat, sich aktiv und offen mit Politik zu befassen, wenn sie praktisch nirgendwo die Möglichkeit hat, sich selbst zu verwirklichen, dann entsteht zwangsläufig eine fremdenfeindliche Bewegung. Der einzige mobilisierende Faktor ist eine Anti-Bewegung – gegen jeden Feind, im Ausland, im Inland, gegen soziale oder ethnische Feinde. Wenn solche Feindbilder und Ängste zunehmen, dann kommt es zu Fremdenfeindlichkeit."

Russland in einer Identitätskrise

Der Experte der Russischen Akademie der Wissenschaften machte ferner darauf aufmerksam, dass die russische Gesellschaft den Zerfall des Vielvölkerstaats noch nicht verkraftet hat. In diesem Zusammenhang sagte Pain: "Unter diesen Bedingungen kommt es zwangsläufig zu einer Identitätskrise. Die Menschen identifizieren sich nicht mehr mit der Großmacht und identifizieren sich zugleich aber auch noch nicht ganz mit Russland."

Sich mit dem neuen russischen Staat zu identifizieren, falle den Menschen schwer, unterstrich Pain: "Die Staatsmacht selbst möchte die neuen Realitäten nicht anerkennen. Wenn das Staatsoberhaupt das Land, dessen Präsident er ist, als kläglichen Rest eines großen Landes bezeichnet, wenn er den Zerfall der UdSSR, also die Entwicklung, aus der der neue Staat hervorgegangen ist, als größte geopolitische Katastrophe bezeichnet, und wenn die Mehrheit der Bevölkerung denkt, dass die UdSSR nicht zerfallen ist, sondern von bösen Kräften zerschlagen wurde, dann stellt sich die Frage, woher bei den Menschen eine positive Selbstidentifizierung kommen soll."

Neue imperiale Staatsideologie

Pain betonte, wenn Russland als Krüppel, als Opfer eine Verschwörung und einer Katastrophe dargestellt werde, dann könne in einer solchen Gesellschaft keine positive Selbstempfindung aufkommen. Deswegen arbeite die russische Staatsmacht an einer Staatsideologie. Der Experte der Russischen Akademie der Wissenschaften sagte dazu: "Derzeit wird eine imperiale Staatsideologie geschaffen. Sie steht noch ganz am Anfang, aber ihre Konturen sind bereits zu erkennen. Sie wird schon von vielen Ideologen propagiert, vor allem von Surkow und vielen anderen, die der Staatsmacht nahe stehen. Es gibt Mechanismen, mit denen diese Ideologie gestützt wird." Das heutige System sei nicht in der Lage, Fremdenfeindlichkeit nicht verhindern, stellte Pain fest.

Vladimir Izotov, Sankt Petersburg
DW-RADIO/Russisch, 25.3.2006, Fokus Ost-Südost