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Massenproteste in Bulgarien

Bistra Seiler / Emiliyan Lilov 26. Juni 2013

Im Februar war bereits das Kabinett des bulgarischen Ex-Premiers Borissow nach Massendemonstrationen zurückgetreten. Nun hat eine skandalöse Personalentscheidung Proteste gegen die Regierung ausgelöst.

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Protestierende vor der Regierung in Sofia (Foto: BGNES)
Bild: BGNES

Tausende Bulgaren rufen seit fast zwei Wochen jeden Tag "Rücktritt!" und "Mafia!" vor den Regierungsgebäuden in Sofia. Die neue Regierung aus Sozialisten und der Partei der türkischen Minderheit (DPS) ist seit weniger als einem Monat im Amt, doch die Menschen fordern schon deren Rücktritt. Als die Menschen im Februar auf die Straße gingen - was dann zum Rücktritt der Regierung von Bojko Borissow gefürt hat - waren die hohen Strompreise der Auslöser. Diesmal geht es nicht um die sozialen Probleme im ärmsten EU-Land, sondern um Kritik an der politischen Klasse, die als korrupt empfunden wird. Die Demonstranten sind hauptsächlich Akademiker und Angehörige der Mittelschicht.

Eine umstrittene Personalentscheidung der Regierung hat die Proteste ausgelöst: Es kann nur darüber spekuliert werden, warum ausgerechnet Deljan Peewski in Bulgarien neuer Geheimdienstchef werden sollte. Viele Bürger sehen den 32-jährigen Geschäftsmann als eine dubiose Figur, der Kontakte zur Unterwelt nachgesagt werden. Zusammen mit seiner Mutter Irena Krastewa, der ehemaligen Chefin der bulgarischen Lottogesellschaft, besitzt er einen Fernsehsender, mehrere Zeitungen und die größte Zeitungsdruckerei des Landes. Woher das Geld für diese Anschaffungen kam, weiß niemand so genau. 

Porträt von Deljan Peewski, dessen Ernennung zum Chef des Geheimdienstes die Proteste in Bulgarien auslöste (Foto: BGNES)
Die Ernennung Peewskis wurde zurückgenommen - doch die Proteste bleibenBild: BGNES

Die politische Karriere des wendigen Geschäftsmannes Peewski schien 2007 vorerst beendet zu sein, als er stellvertretender Minister für Katastrophenschutz war: Damals wurde wegen Korruption und Veruntreuung von Finanzmitteln gegen Peewski ermittelt - allerdings ohne Ergebnis. 

Die Art und Weise, wie die Kandidatur von Peewski für das Amt des Geheimdienstchefs vor kurzem im Parlament in Sofia durchgepeitscht wurde, löste wütende Proteste aus. Die Bevölkerung kritisierte, dass sogar gesetzliche Bestimmungen geändert wurden, um die Stellenbeschreibung an den Kandidaten anzupassen.

Unmut der Bevölkerung zwang Ex-Premier zum Rücktritt

Daniel Smilov, Programmdirektor des Zentrums für liberale Strategien in Sofia, erwartet eine weitere Zuspitzung der politischen Krise in Bulgarien, deren einziger Ausweg Neuwahlen seien: "Diese sollten spätestens in sechs Monaten stattfinden", betont der politische Beobachter.

Die Berufung Peewskis war nicht die einzige fragwürdige Entscheidung der neuen Regierung: Iwan Iwanow durfte nur drei Stunden lang stellvertretender Außenminister bleiben, bevor man ihn wieder entlassen musste. Es war nämlich durchgesickert, dass er früher mit einer kriminellen Gruppe verstrickt gewesen sein soll. Auch weitere Entscheidungen der neuen Regierung ließen Interessen von Oligarchen vermuten. Viele Wähler fühlten sich hintergangen und von einer korrupten politischen Elite missbraucht. Der konservative Politiker Radan Kanev sprach von einer neuen Trennlinie in der Gesellschaft, die nicht mehr zwischen Links und Rechts verliefe, sondern zwischen den Bürgern und der Mafia.

Neue Bürgerinitiative "Charta 2013"

"Die Politiker haben geglaubt, dass sie nur anhand strenger Parteidisziplin und undurchsichtiger Machtmechanismen regieren können. Spätestens jetzt begreifen sie, dass dies ein Irrtum ist und dass jeder Fehler zu Imageschäden führt“, sagt Parvan Simeonov vom Meinungsforschungsinstitut Gallup im Gespräch mit der Deutschen Welle. 

Porträt von Klaus Schrameyer, Botschafter a.D. (Foto: DW/S. Padori-Klenke)
Ex-Vizebotschafter Schrameyer: Charta 2013 hätte Prioritäten plakativ darstellen sollenBild: DW/S. Padori-Klenke

Im Umfeld der aktuellen Proteste ist eine neue Bürgerinitiative unter dem Namen "Charta 2013" entstanden. Dazu gehören etwa 60 angesehene Juristen, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten, die mit ihrem Expertenwissen gegen die Plutokratie ankämpfen und die Regierung unter Druck setzen wollen.

"Der Inhalt der Charta läßt kaum etwas zu wünschen übrig", meint der deutsche Ex-Vizebotschafter in Sofia, Klaus Schrameyer. Doch die Initiatve sei etwas zu vollmundig, zu vage und zu weitschweifig für einen revolutionären Aufruf, meint er. "Anstelle der Aufzählung der weithin bekannten Gebrechen der bulgarischen Gesellschaft hätte man einige Prioritäten plakativ und vor allem konkret aufleuchten lassen sollen: ein neues Wahlgesetz, die Einberufung einer Großnationalversammlung zur Erneuerung der Verfassung, eine Stärkung der Rechte des Staatspräsidenten, die Einführung der Verfassungsbeschwerde, die Entpolitisierung des Obersten Justizrats, die Entmachtung des Generalstaatsanwalts". Nur so sei die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, sagt der Ex-Diplomat im DW-Interview.

Ob die bulgarische Regierung trotz der Proteste an der Macht bleibt, ist schwer abzusehen. In einem Interview für die österreichische Zeitung "Die Presse" nennt Sozialistenchef Sergej Stanischew die Lage in Bulgarien "so explosiv wie in einem Druckkochtopf" und ruft zur Besonnenheit auf. Die neue Regierung sei bereit, die wahren Probleme des Landes, darunter die hohen Strompreise, die Bekämpfung der Armut und die Aktivierung der Wirtschaft anzusprechen.