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Provinzorgie

9. November 2009

Stephan Thomes Debut "Grenzgang" hat die deutschen Kritiker begeistert. Der Roman zeichnet ein realistisches Bild einer westdeutschen Provinzstadt, die alle sieben Jahre in den Ausnahmezustand versetzt wird.

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Buchcover Stephan Thome: Grenzgang (Suhrkamp Verlag)

Biedenkopf an der Lahn, eine Kleinstadt im hessischen "Hinterland". Hier ist Stephan Thome aufgewachsen, hier spielt sein Roman "Grenzgang". Geschrieben hat er ihn jedoch auf der anderen Seite der Weltkugel. Denn seit 2005 arbeitet Stephan Thome als promovierter Philosoph in Taiwan:

"Ich hab eigentlich immer gedacht, dass ich zunächst mal über das, was augenscheinlich spektakulärer ist, nämlich die Erfahrung des Lebens in Ostasien, dass ich darüber schreiben würde oder dass mein erster Roman damit zu tun haben und davon handeln würde. Vielleicht ist es nicht nur zufällig und nicht nur kurios, dass es anders gekommen ist: dass der Gang in die Fremde einen zunächst mal zurück wirft auf die eigenen Wurzeln und die eigene Herkunft."

Drei Jahre lang ist Stephan Thome abends und an Wochenenden zurückgetaucht in die alte Heimat, die er im Roman Bergenstadt nennt. Zum Dreh- und Angelpunkt hat er das Großereignis des Kleinstadtalltags gemacht: das traditionelle, alle sieben Jahre gefeierte Grenzgangsfest. Eine Gelegenheit, Dinge auszuprobieren, so Thome, vor denen man normalerweise zurückschrecken würde:

"Also es gibt drei Tage lang Freibier – und jetzt stellen Sie sich eine Gruppe von ungefähr 10.000 Feiernden vor, die unentgeltlich und deshalb auch unentwegt Alkohol zu sich nehmen: Und natürlich passieren dann Dinge, die sonst nicht passieren."

Bierkrüge (Foto: dpa)
Drei Tage lang Freibier für alleBild: dpa

Immer wieder stellt die Provinzorgie im Roman Lebensläufe auf den Kopf. So lernte Kerstin Werner beim Grenzgangsfest vor 21 Jahren ihren Ehemann kennen und verlor ihn dort 14 Jahre später an eine Jüngere. Thomas Weidmann wiederum suhlte sich beim letzten Mal in seinem großen Scheitern. Der Traum von einer Professur in Berlin war geplatzt. Er schrumpfte zu einem Studienratsposten in der alten Heimat. Im Sommer der Fußball-WM 2006, auf der Gegenwartsebene des Romans, erwarten die beiden Mittvierziger nun das nächste Fest. Thome habe damit ein bestimmtes westdeutsches Milieu darstellen wollen:

"Und diese Leute haben Probleme, und sie scheitern, und sie erfahren Brüche in ihrem Leben. Aber sie stürzen nicht ganz und gar ab. Es ist dieses Unglück, das nie spektakulär wird sozusagen. Es ist ein alltägliches Unglück. Es passiert keine Katastrophe im Vollsinn des Wortes."

In der feinfühligen Beschreibung des alltäglichen Schlingerns liegt Stephan Thomes literarische Meisterschaft: ganz gleich, ob er die Pflege einer demenzkranken Mutter thematisiert oder das sonntägliche Anlaufen gegen die Einsamkeit. Sein dialogstarker Roman "Grenzgang" zieht seine innere Spannung aus dem Zwiespalt seiner Hauptfiguren: ihrem Wunsch auszubrechen und gleichzeitig ihrer Angst davor.

"Ich glaube einfach, dass diese Art von Ambivalenz nicht untypisch ist für unser Leben letzten Endes. Also es gibt ja wahrscheinlich wenige von uns, die sich als wunschlos glücklich bezeichnen, und es gibt zumindest quantitativ nicht viele, die kreuzunglücklich sind mit ih-rem Dasein. Diese beiden Hauptfiguren, glaube ich, haben ein gewisses Identifikationspotential für viele 'ganz normale Leute', wie man so sagt."

Der Schriftsteller Stephan Thome (Foto: ullstein bild)
Stephan ThomeBild: ullstein bild - Roth

Bis zum nächsten Grenzgangsfest können Kerstin Werner und Thomas Weidmann allerdings nicht warten. Das Internet eröffnet ihnen ebenso erotische Möglichkeiten wie der Besuch in einem hessischen Swinger-Club, den Stephan Thome mit wunderbar beiläufiger Ironie in Szene setzt. Gerade weil es der Wahl-Taiwanese so gut beherrscht zu differenzieren, wird sein starker Erstling "Grenzgang" in der alten Heimat Biedenkopf auch nicht als Nestbeschmutzung wahrgenommen.

Die ironische Distanz, so Thome, werde von den meisten Lesern aus Biedenkopf offenbar goutiert: "So souverän scheinen die meisten dann doch zu sein, dass sie – zumindest in dieser fiktiven Romanform – es akzeptieren können, wenn Leute vom Leben in diesem Ort nicht begeistert sind und damit nicht so zufrieden sind, wie die meisten Menschen hier es doch zu sein scheinen."


Stephan Thome: Grenzgang
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 9783518421161
Preis (EURO): 22,80


Autor: Christoph Vormweg
Redaktion: Gabriela Schaaf