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Niederlande: Wie umgehen mit psychisch Kranken?

Suzanna Koster / glh25. Juli 2015

Die Zahl der psychisch Kranken in den Niederlanden ist plötzlich gestiegen. DW-Reporterin Suzanna Koster hat sich auf die Suche nach einer Erklärung gemacht. Und verbrachte unter anderem einen Tag in der Notfallambulanz.

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Mann von hinten (Foto: Foto: Markus Scholz)
Bild: picture-alliance/M. Scholz

Das Telefon klingelt, sofort eilt Krankenpfleger Theo Eberson zu seinem Auto. Er ist auf Menschen mit psychischen Problemen spezialisiert. Am Telefon ist die Polizei: Eberson soll die mentale Gesundheit eines Mannes feststellen, den sie gerade festgenommen haben. Auf der Wache angekommen schildert der Polizist ihm den Fall: Der Mann habe in einem Hausflur eines großen Apartmentblocks auf Türen eingeschlagen. Als ihn ein aufgebrachter Anwohner aufforderte zu gehen, brach ein Streit aus.

"Wir wollen wissen, ob man etwas für den Mann tun kann", sagt der Polizeikommissar Mike De Wit. Er öffnet die Tür zur Zelle und lässt Krankenpfleger Theo Eberson herein. Eberson erklärt dem Mann, dass er von der kommunalen Gesundheitsbehörde kommt und nur mit ihm sprechen will. Doch der Mann antwortet kaum. Er liegt auf der Zellenbank, zittert und hat Schwierigkeiten, seine Augen offen zu halten. Behutsam erklärt Theo Eberson, dass er jetzt einen Krankenwagen rufen werde, der den Mann ins Krankenhaus bringt.

Polizeikommissar de Wit kennt diesen Ablauf schon. "Es gibt heute mehr Menschen, die auf der Straße leben müssen", sagt der Polizist aus Amsterdam. "Gleichzeitig gibt es aber weniger Hilfe für verwirrte Menschen. Irgendwann fallen sie dann mal auf und enden hier bei uns."

Manche erregen lediglich öffentliches Ärgernis - auf unterschiedlichste Art und weise. Aber es sind auch kleine Hausbrände darunter, ein anderes Mal wiederum will eine Person ein Auto auf einem Eisenbahngleis parken.

Immer mehr geistig Vorfälle mit verwirrten Menschen

So etwas ist nicht nur in der niederländischen Hauptstadt an der Tagesordnung. Im ganzen Land ist die Zahl der Vorfälle, an denen geistig verwirrte Menschen beteiligt waren, von 2013 auf 2014 um 13 Prozent gestiegen, meldet die Polizei: von 53.000 auf 60.000. Der rasche Anstieg hat eine nationale Debatte in den Niederlanden ausgelöst.

Jacobine Geel leitet den Verband für psychische Krankheiten "GGZ Nederland". Sie glaubt, dass Kürzungen im staatlichen Gesundheitssektor ein Grund für den Anstieg der Vorfälle sind: "Oft leben diese Menschen in ihren eigenen Häusern. Wird das Budget gekürzt, bedeutet das, dass sie weniger Anlaufstellen haben." Zudem habe die Niederlande die Bettenzahl in psychiatrischen Abteilungen stark reduziert, um mehr Patienten ambulant zu versorgen, sagt Geel.

Wartelisten von bis zu drei Monaten

Fred Ter Meer weiß, wovon Geel spricht. Er leitet die "Yulius"-Gruppe, die verschiedene Einrichtungen für psychische Gesundheit mit mehr als 16.000 Patienten vereint. Schon jetzt musste die Gruppe zahlreiche Betten streichen und vor 2018 sei kein Ende in Sicht, sagt Ter Meer.

Bettler auf der Straße (Foto: Chris Jackson/Getty Images)
Psychisch Kranke befinden sich oft in einer NotlageBild: Getty Images

"Wir haben zum ersten Mal in unserer Geschichte eine Warteliste, und sie wird immer länger", sagt der Vorstandsvorsitzende. Schon jetzt könne es bis zu drei Monate dauern bis man einen Platz bekommt. "Das ist ein großer Zeitraum und die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient in dieser Zeit in eine kritische Situation kommt, ist sehr hoch", sagt Ter Meer.

"Die Polizei ist auf mich gesprungen und hat mir Handschellen angelegt."

Leidtragende sind Menschen mit psychischen Problemen - wie die 19-jährige Felix. Sie hatte das Krankenhaus verlassen, in dem sie behandelt worden war. Aus Angst, die junge Frau könnte sich etwas antun, verständigten die Krankenhausangestellten die Polizei. Als Felix gerade bei sich zu Hause angekommen war, standen plötzlich zwei Polizeiwagen vor ihrer Tür und sechs Polizisten stürmten ihre Wohnung.

"Sie sind auf mich gesprungen, haben mir Handschellen angelegt und mich in ein Auto gesteckt", erzählt Felix leise. "Ich wurde wütend. Ich schrie und sagte alles Mögliche, was mir gerade einfiel - dass sie Idioten seien. Ich bin einfach in Panik ausgebrochen. Ich hatte das Gefühl ungerecht behandelt zu werden, in meinem eigenen Zuhause."

In der Polizeiwache angekommen, habe sie sich ausziehen müssen, erzählt Felix: "Mir wurde nichts erklärt." Erst nach einer halben Stunde sei eine Krankenschwester gekommen, um mit ihr zu sprechen. "Nach dem Gespräch habe ich mich viel besser gefühlt. Wäre sie früher da gewesen oder anstelle der Polizei gekommen, hätte die Situation komplett anders ausgesehen", sagt Felix.

Geistig verwirrte Menschen sollen nicht von Polizei abgeholt werden

Carina Stigter ist Notallkrankenschwester und kennt das Problem. Trotz aller Unterschiede hätten viele psychisch Erkrankte oft ein gemeinsames Problem: "Sie haben keine Lösung für ihre Situation und finden keine Hilfe im Umfeld."

Wenn sie dann von der Polizei abgeholt würden, vergrößere der Stress das Leiden dieser Menschen zusätzlich, sagt Stigter: "Die Polizei wird ausgebildet, um mit Kriminellen umzugehen. Sie stecken die kranken Menschen also in eine Zelle und behandeln sie wie Verdächtige."

Deshalb setzt sich Stigter für einen anderen Umgang mit potenziellen Patienten ein. Vor rund einem Jahr hat sie in Utrecht ein Programm gestartet, nach dem die Polizei zunächst das Krisenzentrum benachrichtigt, wenn Personen wegen möglicher psychischer Probleme auffällig werden. Im Juni verkündete die niederländische Gesundheitsministerin, dass bis Ende des Jahres in jeder Stadt ein ähnliches System aufgebaut werden soll.

Bilder von Krieg und Gewalt überfordern die Menschen

Neben den Versorgungsproblemen schließt Jacobine Geel von der Gesundheitsorganisation "GZZ" aber auch einen tatsächlichen Anstieg psychischer Erkrankungen nicht aus. Vor allem finanzielle Probleme könnten dazu beigetragen haben: "Die Finanzkrise hat für viele Individuen problematische Konsequenzen gehabt. Jetzt kommen diese Probleme langsam ans Licht. Stellen sie sich beispielsweise vor, in einer Partnerschaft mit Kindern verlieren plötzlich beide ihren Job. Stressanfällige Menschen können dann schnell im Eis versinken, wie wir auf Niederländisch sagen."

"Manche dieser Menschen", vermutet Geel, "brechen wahrscheinlich einfach unter dem Gewicht unserer sehr komplexen Gesellschaft zusammen." Auch die überall verbreiteten Bilder von Konflikten, Gewalt und Kriegen in TV und Internet trügen zu dem erhöhten Stresslevel bei. "Einige mögen bereits eine Historie psychischer Erkrankungen haben", sagt Geel. "Doch bevor wir nach Lösungen suchen, müssen uns über die Komplexität und die Vielfalt der psychischen Leiden dieser Gruppe bewusst werden."