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Pulverdampf im Klassenzimmer

Stephan Hille21. Oktober 2003

Russische Schüler müssen bald neben Rechnen und Schreiben auch wieder Schießen lernen. Nach dem Willen der Duma soll die vor zehn Jahren abgeschaffte vormilitärische Ausbildung wieder als Pflichtfach eingeführt werden.

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Die Armee hat unter den Russen einen schlechten Ruf. Nicht zu Unrecht: Schließlich müssen alle jungen Männer nach der Schule für ganze zwei Jahre die olive Uniform anziehen und in kargen Kasernen lernen, das Vaterland zu verteidigen. Nur wer Glück hat, übersteht den Armeedienst unbeschadet. Pro Jahr kommen rund 4000 Soldaten um, in Friedenszeiten wohlgemerkt. Die Verluste in Tschetschenien sind hier nicht mit eingerechnet. Hauptfeind der Soldaten sind Schlampigkeit und die Willkür der Vorgesetzten.

In den Kaseren herrscht die "Dedowtschina", zu deutsch das "Großväterchenregiment" und eine brutale Hackordnung. Ältere Rekruten foltern, quälen und drangsalieren die frisch Eingezogenen. Ein Teufelskreislauf, denn die Opfer geben später die Erniedrigungen an die nachfolgenden Wehrpflichtigen weiter.

Wer kann, kauft sich vom Wehrdienst frei

Rund 10.000 Rekruten desertieren jährlich, nicht selten drehen manche durch und schießen sich den Weg mit der Kalaschnikow frei. Und wer kann, kauft sich rechtzeitig vor dem Einberufungsbefehl frei oder lässt sich vom Arzt gegen Bares untauglich schreiben.

Den Militärs macht mehr der rapide Imageverlust der Armee unter der russischen Jugend Sorgen als die realen katastrophalen Zustände in den Kasernen.

Prestige der Armee verbessern


Unter der Federführung des Ex-Generals und Abgeordneten Nikolaj Besborodow hat das russische Unterhaus in erster Lesung eine Gesetzesänderung verabschiedet, nach der die vormilitärische Ausbildung wieder zum Pflichtfach für die Schüler der neunten und zehnten Klasse werden soll. Der Autor des Gesetzesprojektes glaubt nicht nur, damit das Prestige der Armee anzuheben, sondern ist der Ansicht, dass die Jugend möglichst früh den Umgang mit der Waffe lernen und "sich an die Geräusche von Schüssen gewöhnen sollte".

Zu Sowjetzeiten gehörte die Wehrkunde in der Schule zum Pflichtprogramm und wurde erst 1993 in ein Wahlfach umgewandelt. Jetzt scheint die Zeit reif, um wieder ein Stück sowjetischer Vergangenheit hervorzukramen.

Griff in die Mottenkiste

Das Parlament segnete die Gesetzesänderung in einer großen patriotischen Einheitsfront von Kommunisten bis zur Kreml-Partei "Geeintes Russland" ab. Nur eine Minderheit von Abgeordneten warnte vor der wachsenden Militarisierung der Gesellschaft. Dass das Gesetz auch die weiteren parlamentarischen Hürden nimmt, gilt als wahrscheinlich. Schließlich ist auch Präsident Wladimir Putin dem Projekt des ehemaligen Schulterklappenträgers gewogen. Um den gelegentlichen Griff in die sowjetische Mottenkiste ist Putin ohnehin nicht verlegen. Dem Volk hat er schließlich schon die alte Hymne wiedergegeben und der Armee den Roten Stern.