1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Putins Kehrtwende

Miodrag Soric15. August 2002

Wollte Russlands Präsident Putin früher von einem Zusammenschluss mit Weißrussland nichts wissen, hat er nun eine Kehrtwende vollzogen. Miodrag Soric kommentiert den Wandel.

https://p.dw.com/p/2YqW

Die Sowjetunion ist tot, doch die Sowjetnostalgie lebt. Besonders ältere Menschen in Weißrussland und Russland sehnen sich zurück nach den vermeintlich guten alten Zeiten, als sie noch in einem Land lebten, in dem es ein hohes Maß an sozialer Sicherheit gab, Vollbeschäftigung staatlich garantiert war und die UdSSR sich Supermacht nennen durfte. Politiker, die den Zusammenschluss der so genannten slawischen Bruderstaaten forderten, erfreuten sich einer gewissen Popularität.

Ein solcher Politiker war lange Zeit der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko. Wenn es nach ihm ginge, wäre die Verschmelzung der beiden Staaten schon lange über die politische Bühne gegangen - schon zu Jelzins Zeiten. Lukaschenkos Traum war es, den früheren Kremlchef auch politisch zu beerben. Er wollte Präsident eines großrussischen Reiches werden, das von der polnischen Ostgrenze bis nach Kamtschatka reicht.

Daraus wurde nichts. Nicht der ehemalige Geheimdienstler Lukaschenko zog in den Kreml ein. Das Rennen machte der frühere KGB-Mann Wladimir Putin. Und der wollte lange Zeit von einer Wiedervereinigung nichts wissen. Mit gutem Grund. Sie würde ein Klotz am Bein der russischen Volkswirtschaft sein. Das Reich des Despoten Lukaschenko verfügt weder über Erdöl noch über Erdgas. Die verarbeitende Industrie hat allenfalls Museumswert, die Landwirtschaft hält an den unwirtschaftlichen Prinzipien der kommunistischen Vorzeiten fest. Von Reformen oder einer Modernisierung des Landes wollte Lukaschenko nichts wissen. Er pflegte den verklärten Blick in die rote Vergangenheit. Immerhin subventionierte Präsident Jelzin den slawischen Bruder im Westen - vor allem aus außenpolitischen Gründen. Eine Vereinigung mit Weißrussland sollte Moskaus Antwort sein auf die drohende NATO-Osterweiterung. Doch das scheint eine politische Ewigkeit her zu sein.

Putin und Lukaschenko haben - was den möglichen Zusammenschluss ihrer beiden Staaten betrifft - ihre Rollen getauscht. Putin will sich Minsk einverleiben, und das möglichst schnell. Lukaschenko wehrt sich mit Händen und Füßen. In Minsk kann seit dem jüngsten Treffen der beiden Politiker das Fernsehprogramm aus Moskau nicht mehr empfangen werden. Weißrussische Medien, nennen wir sie der Einfachheit halber den verlängerten Arm Lukaschenkos, wettern gegen Präsident Putin. Fakt ist: Der weißrussische Despot fürchtet um seine Karriere. Die wäre beendet, wenn sich am Ende der dynamische Kremlchef durchsetzt.

Erstmals seit vielen Jahren kann Lukaschenko mit der Unterstützung der Opposition in seinem Land rechnen. Gestern noch verfolgte er sie mit unbarmherziger Strenge, warf politische Gegner in Gefängnis, ließ sie sogar ermorden. Und heute ruft er dazu auf, die weißrussischen Reihen zu schließen gegen den übermächtigen Feind im Osten. Ironie oder Irrwitz der Geschichte?

Putins Kehrtwende vom Gegner zum Anhänger der Vereinigung hat mehrere Gründe. Die wirtschaftliche Lage Russlands hat sich seit seinem Amtsantritt deutlich verbessert. Ein Zusammenschluss wäre finanzierbar. Verbessert hat sich nach den Ereignissen des 11. Septembers auch Russlands Verhältnis zum Westen. Moskau hat inzwischen die NATO-Osterweiterung akzeptiert. Es hofft jetzt, dass auch der Westen nichts gegen eine Vereinigung mit Minsk hat. Der neue großrussische Staat würde eine direkte Grenze mit Polen haben, das schon jetzt der NATO angehört und demnächst auch der EU. Der neue Staat würde näher an die Enklave Kaliningrad rücken. Putin würde in die Geschichtsbücher eingehen als jemand, der "russische Erde sammelt" und nicht - wie viele es Jelzin vorwerfen - zerstreut und verliert.

Der Westen hat in diesem Spiel keine Karten. Er ist an politischer Stabilität und der Fortführung der demokratischen Entwicklung interessiert. Lukaschenko, der letzte Diktator Europas, war keineswegs ein Garant, sondern das Hauptproblem einer demokratischen Entwicklung in diesem Teil Europas. Viele im Westen blicken immer noch misstrauisch nach Moskau, vor allem dann, wenn sich das größte Land der Erde weiter vergrößern will. Letztlich wird aber niemand eine Vereinigung verhindern können, wenn es die Bevölkerung in Weißrussland mehrheitlich will. Und um die geht es schließlich. Sie sollte das letzte Wort haben.