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Quälerei als Alltag

Stephan Hille31. Januar 2006

Sadismus , Bestechlichkeit, Verrohung, Armut: Russlands größte Gefahr ist die eigene Armee. Hoffnung auf Besserung der Mentalität ist nicht in Sicht.

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Der Feind steht im eigenen Land und trägt Uniform. Jedes Jahr sterben hunderte von Wehrpflichtigen an der Hand ihrer Kameraden und Vorgesetzten. "Dedowtschina" - übersetzt: die Herrschaft der Großväter - so heißt das brutale Prinzip von Gängelei, Folter und Unterdrückung, dem die frisch eingezogenen Wehrpflichtigen in den Armeebaracken im ganzen Land ausgesetzt sind. Meist sind es die bereits längerdienenden Soldaten, die frische Rekruten quälen - nicht selten bis zum Tod. Wer das grausame Ritual überlebt, gibt die erlittenen Qualen und Schmerzen häufig an die nächste Generation von "frischen" Rekruten weiter.

Stephan Hille

Sadistische Hackordnung

Die "Dedowtschina" ist in Russland traurig-berühmter Alltag. Beinahe täglich ist in den Medien von neuen Rekrutenquälereien zu hören. Ernsthafte Versuche, die sadistische Hackordnung zu unterbinden gibt es kaum. Um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, versuchen die Militärs in der Regel die grausamen Täter zu decken. Die meisten Fälle dringen daher nicht über den Kasernenhof hinaus. Die russische Gesellschaft scheint sich mit der "Dedowtschina" als unabänderliche Tatsache und Bestandteil des Armeealltags abgefunden zu haben.

Doch das extrem harte Schicksal des Gefreiten Andrej Sytschow aus einer Panzerschule in Tscheljabinsk in Sibirien hat nun, nach dem der Fall publik wurde, das ganze Land erschüttert. In der Neujahrsnacht hatten offenbar betrunkene Ausbilder mehrere Rekruten, darunter auch den 19-jährigen Sytschow misshandelt. Ihn traf es am härtesten, man hatte ihn an einen Stuhl gefesselt und stundenlang auf seine Beine eingeschlagen. Obwohl Sytschow über schlimme Schmerzen klagte, wurde ihm in der Kaserne medizinische Hilfe verweigert. Erst am 4. Januar wurde er in ein ziviles Krankenhaus gebracht. Mit Mühe konnten die Ärzte sein Leben retten, mussten ihm jedoch beide Beine und seine Genitalien amputieren.

Schweigegeld für den "halben Sohn"


Den Ärzten im Krankenhaus wurde eingeschärft, über das Schicksal des jungen Rekruten zu schweigen. Erst durch einen anonymen Anruf bei dem Komitee der Soldatenmütter, einer NGO, die seit Jahren gegen Willkür und Rekrutenquälerei in der Armee kämpft, wurde der Fall überhaupt bekannt. Der Mutter des Rekruten, die von der Armee "nur den halben Sohn zurück bekam", wie eine russische Zeitung zynisch schrieb, soll anfangs von Unbekannten sogar ein Schweigegeld angeboten worden sein.

Sergej Iwanow, Verteidigungsminister, stellvertretender Regierungschef und einer der engsten Vertrauten von Präsident Wladimir Putin hatte offenbar auch drei Wochen nach dem Vorfall keine Einzelheiten über den Fall des Rekruten Sytschow gehört. Erstaunlich und für westliche Verhältnisse haarsträubend, nicht aber für die russische Armee. Dort wird traditionell versucht, schlechte Nachrichten nicht bis an die oberste Spitze weiter zu tragen. Erst am vergangenen Freitag schaltete sich Iwanow in die Ermittlungen ein. Inzwischen rollen die ersten Köpfe, der zuständige General der Panzerschule wurde entlassen. Gegen ihn wird ermittelt. Wladimir Putin fordete unterdessen Iwanow auf "gesetzliche und organisatorische Maßnahmen" zu ergreifen, die solche Fälle verhindern sollen.

Hälfte der Armee unter der Armutsgrenze


Doch das sadistische Milieu im Militär dürfte sich wohl nur durch eine umfassende Armeereform bekämpfen lassen. Die aber kommt kaum voran. Es mangelt vor allem an einem professionellen Offizierskorps und an einer angemessenen Entlohnung. Knapp die Hälfte aller Armeeangehörigen soll unterhalb der Armutsgrenze leben. Kein Wunder ist das soziale Klima in der Armee so schlecht wie nie. Wer kann, der versucht daher der Einberufung mit ärztlichem Attest oder einem Bestechungsgeld zu entkommen.