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"Randgruppen nicht erfasst"

20. Dezember 2001

- Anmerkungen zu den Ergebnissen der Volkszählung

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Budapest, 20.12.2001, PESTER LLOYD, deutsch

Das Zentralamt für Statistik ist unpolitisch. Das versichert sein Präsident Tamas Mellar bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Am vergangenen Mittwoch (12.12.) tat er es mit Nachdruck. Es war der Tag, an dem die ersten umfangreichen Daten aus der Volkszählung vom Februar veröffentlicht wurden.

Eine derart schnelle Aufarbeitung sucht in der Welt ihresgleichen; die ungarischen Statistiker haben ganze Arbeit geleistet. Die französische Firma Bull lieferte die moderne Datenverarbeitungstechnik (...). Die Daten werden – auch das ist neu – kostenlos im Internet ausgestellt.

Mit der vollständigen Aufarbeitung der Fragebögen müssen wir uns allerdings noch ein Jahr gedulden. Die jetzigen Zahlen geben immerhin die Richtung vor, weil ihnen eine zehnprozentige Probe zugrunde liegt. Da sie nach Wahlkreisen geordnet wurden, erhalten die Parlamentsabgeordneten ein klares Bild über die soziale Schichtung ihrer Bürger. Und klar sehen sollten Politiker, die sich im April 2002 den Wählern erfolgreich stellen wollen.

Statistiken sind politisch wertfrei. In der Hand von Politikern hingegen werden sie zur scharfen Waffe. Ein guter Grund für Tamas Mellar, uneingeschränkte Transparenz zu gewähren. Sofern die Daten bereits publik sind. Sie sind es z.B. hinsichtlich unserer religiösen Anschauungen. Dies war eine von insgesamt drei sensiblen Fragen, auf die nicht zwingend geantwortet werden musste. Es war mutig, das Thema der Konfessionen anzufassen, und heute wissen wir, dass z.B. 52 Prozent aller Ungarn katholisch sind.

Nicht angefasst wurde das Thema der Minderheiten. Jedenfalls sagen das die Statistiker, die uns gerade stolz die superschnelle Technik präsentieren. Das Eisen war zu heiß, um in einer Probe vorzeitige Schlüsse ziehen zu wollen. Vielleicht hätte die ja das eine oder andere überraschende Ergebnis zutage gebracht.

Zum Beispiel, was die Bevölkerungsentwicklung bei den Zigeunern anbelangt. Die Volkszählung brachte es an den Tag, dass heute in Ungarn knapp 10,2 Millionen Menschen leben. Das sind zwar zwei Prozent weniger als noch 1990, aber auch etwa 200.000 Menschen mehr, als bisherige Schätzungen unterstellten. Für dieses Phänomen gibt es unterschiedliche Erklärungen, die von der internationalen Migrationbewegung bis zur Zeugungsfreude der Zigeuner reichen.

Die offiziell als Roma bezeichnete Volksgruppe ist ein kulturgeschichtliches Anhängsel, das den Ungarn schwer zu schaffen macht. Es ist die einzige Minderheit, die sich nicht nach dem Schwamm-Drüber-Prinzip assimilieren lässt, wie es die Magyaren friedlich mit Slowaken, Deutschen und anderen praktizieren. Wer ihre Zahl bisher schätzte, sprach fast peinlich berührt von 200.000 - 400.000 Menschen. Die Zigeuner galten schon immer als soziale Randgruppe; daran haben auch zehn Jahre Marktwirtschaft nichts geändert. Ihre Unzufriedenheit wächst in einem fort - und nicht nur sie.

Die Volkszählung wird natürlich Aufschluss über die aktuelle Zahl der Zigeuner geben, selbst wenn sich niemand gerne freiwillig zu einem diskriminierten Status bekennt. Diese Zahl aber werden wir erst im Herbst 2002 wissen. Nach den Wahlen.

Fidesz-Chef Zoltan Pokorni mag schon heute eine Ahnung haben. Er bot am vergangenen Montag dem Chef der wohl einflussreichsten Zigeuner-Organisation ein Wahlbündnis an. (fp)