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Realistischer Blick in die Zukunft

Rolf Wenkel 29. Januar 2003

Bundesarbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hat am Mittwoch (29. 1.) dem Kabinett den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung vorgestellt. Was davon zu halten ist, sagt Rolf Wenkel.

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Was Minister Clement heute seinen Kabinettskollegen vorgelegt hat, ist entgegen allen hartnäckig anders lautenden Meldungen keine Prognose über das künftige Wirtschaftswachstum, sondern eine Zielprojektion. Das Geschäft mit den Prognosen besorgen in Deutschland schon genug Institutionen, und es gleicht immer wieder dem Stochern im Nebel.

Was Wolfgang Clement sich vom Kabinett hat absegnen lassen, ist eine Zielmarke, die sich die Regierung selbst gesetzt hat. Eine Zielmarke, die sie für erreichbar hält, wenn sich die Wirtschasftssubjekte rational verhalten, wenn die Gewerkschaften bei einer moderaten Lohnpolitik bleiben, wenn die Gesetze und Reformen so greifen, wie sich das die Regierung vorstellt, wenn die internationale Lage keinen Strich durch die Rechnung macht und wenn uns nicht der Himmel auf den Kopf fällt.

Und genau das ist der Punkt: Die vielen "Wenns" machen diese Zielmarke so unverbindlich und beliebig, dass sie im Grunde nur zweimal im Jahr kurzfristig die Öffentlichkeit interessiert: Am Tag der Veröffentlichung selbst, und am Jahresende, wenn die Chronisten nachschauen, was aus dieser Zielmarke geworden ist. Erinnern wir uns: Im vergangenen Jahr nannte Finanzminister Hans Eichel eine Zielmarke von zweieinhalb Prozent - tatsächlich aber ist die deutsche Wirtschaft mit einem Wachstum von 0,2 Prozent nur knapp an einem Stillstand vorbeigekommen.

Natürlich hatten die anderen Schuld, natürlich ist uns der Himmel auf den Kopf gefallen. Die Weltwirtschaft lahmt, und dieser lähmende Faktor trägt den Namen George W. Bush, dessen Säbelrasseln weltweit für einen beispiellosen Attentismus gesorgt hat, ein Abwarten, ein Hinauszögern, ein Aufschieben von Investitionsentscheidungen. Und für einen drastischen Anstieg der Rohölpreise, der die Energiekosten erhöht und Inflation importiert. Und für einen schwachen Dollar, der den europäischen Exporteuren zunehmen das Leben schwer macht.

Aber das alles kann und darf keine Entschuldingung dafür sein, dass Deutschland seine Zielmarken so dramatisch verfehlt. Natürlich war der 11. September ein Schock, natürlich haben die gigantischen Bilanzskandale in den USA das Vertrauen der Kapitalmärkte zerstört, natürlich ist dadurch die Fremdfinanzierung der Unternehmen schwieriger geworden, natürlich hat das zu einem drastischen Rückgang der Investitionen geführt, natürlich schafft man ohne Investitionen keine neuen Arbeitsplätze. Aber diese externen Schocks hatten andere Länder auch zu verkaften - und sie haben das weitaus besser bewältigt als die deutsche Wirtschaft.

Immerhin muss man Wolfgang Clement eines zugute halten: Er ist kein Schönfärber, sondern Realist. Gerade einmal 100 Tage im Amt, hat er die Zielprojektion der Regierung zurechtgestutzt: Wachstum runter, Arbeitslosenzahlen rauf. Und er hat sich viel vorgenommen: Arbeitsmarktreform, Gesundheitsreform, Mittelstandsoffensive, Ausbau der Kinderbetreuung, Entbürokratisierung des Umweltrechts, des Baurechts und des Planungsrechts. Auch vor dem Arbeitsrecht will er nicht Halt machen, wie seine Versuchsballons in Sachen Kündigungsschutz in Keinbetrieben zeigen.

"In Deutschland muss ein Umbau stattfinden, der weiter geht, als viele wahr haben wollen", sagt Clement. Und damit meint er nicht etwa die oppositionellen Christdemokraten. Denn die haben schon signalisiert, einem Umbau nicht im Wege zu stehen, wenn sich der Rauch der Landtagswahlen nach dem 2. Februar verzogen hat. Nein, Clement meint die eigenen Genossen, den strammen Gewerkschaftsflügel in seiner eigenen Partei, dem seine pragmatische Wirtschaftspolitik suspekt ist, der eine Deregulierung und Flexibisisierung des Arbeitsmarkte sofort und kategorisch als Abbau des Sozialstaates verunglimpft. Clement muss in seinen eigenen Reihen Überzeugungsarbeit leisten, muss innere Widerstände auflösen, und das möglichst schnell. Denn die Regierung hat im vergangenen Oktober eine zweite Chance zur Bewährung bekommen. Bleibt alles so, wie es ist, wird sie eine dritte nicht mehr bekommen.