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Reanimation einer Totgesagten

Alexander Kudascheff8. März 2006

Wieder einmal ist das politische Brüssel mit sich selbst beschäftigt. Es geht um einen Wiederbelebungsversuch. Um eine Reanimation einer Totgesagten oder einer Toten. Es geht darum, die europäische Verfassung zu retten.

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Wohin man auch hört und sieht - von rechts bis links - sind sich die allermeisten einig: die europäische Verfassung ist nicht tot (wie der niederländische Außenminister Bot gesagt hat), sie ist auch nicht ad acta gelegt. Sondern: man könne sie retten, man müsse sie retten, so heißt es beschwörend - zum Beispiel in den Gängen des Europaparlaments.

Europa, so sagt es die EVP - und die SPE würde dem bedingungslos zustimmen - braucht die Verfassung, genauer: diese Verfassung. Nur so könne man - angesichts der weltweiten Herausforderungen des alten Kontinents - Stichworte sind: Terrorismus, Atomstreit, Energie - seine Handlungsfähigkeit beweisen und sichern.

Ohnmächtiges Europa

Ein Europa ohne Verfassung, so wird geraunt, ist ein ohnmächtiges Europa, bestenfalls eine Ansammlung von 25 Nationalstaaten. Das müsse man kommunizieren, denn die Stimmungslage sei eigentlich ganz gut. Natürlich wisse man, dass sich vor den Wahlen in Frankreich und den Niederlanden im Sommer 2007 (sic!) nichts bewegen lasse, aber man müsse sich auf diesen Termin zubewegen.

Deswegen wäre es vernünftig, eine Road-Map vorzulegen - am besten beim Sommergipfel der EU. Dabei solle klargestellt werden: es wird nicht über die Verfassung diskutiert, sondern über Europa. Man müsse den Europäern den Nutzen der EU zeigen. Und man müsse sich einigen, was machbar ist und was nicht.

Im Klartext: den Text könne man nicht verändern - auch weil die erreichte institutionelle Balance das Maximum sei, das erreichbar sei. Aber man könne den Text verschlanken - ihn auf das Wesentliche, also auf die Grundrechte reduzieren und ihn nicht überfrachten. Dazu könne man eine Erklärung zur Globalisierung stellen - um den Menschen die berechtigten Ängste zu nehmen, die sie vor weltweitem Wettbewerb und Konkurrenz hätten.

Auf den Kontext kommt es an!

Im übrigen müsse man den Kontext ändern. Die Franzosen und Niederländer hätten ja nicht den Verfassungstext abgelehnt - sondern wie es in Brüssel heißt: den Kontext. Sie hätten gegen die zu schnelle Erweiterung gestimmt. Gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Gegen immer mehr Mitglieder. Gegen die neue Unübersichtlichkeit der europäischen Gemeinschaft. Gegen die Unfähigkeit der EU, schnell, effizient und geschlossen gegen Krisen zu reagieren.

Deswegen müsse man parallel nachdenken, wie die zukünftige Erweiterung der EU aussehen könne. Ob man nicht die alte EFTA im Gewand des EWR (Europäischer Wirtschaftsraum), aber in einer erweiterten Form, sozusagen "EWR plus", wieder beleben könne. Mit anderen Worten: die EU müsse endlich die Antworten geben, die die Bürger von ihr verlangen - und dann sei auch die Verfassung zustimmungsfähig.

Immerhin, so heißt es dann weiter, hätten ja schon 14 Ja und nur zwei Nein gesagt. Und kämen Estland und Finnland demnächst dazu, dann seien es sogar 16. Eine veritable Mehrheit, die man nicht einfach übergehen könne. Schließlich habe auch die Mehrheit Anspruch auf Respekt. Was auch nicht falsch ist - aber die Gesetze der Demokratie ein bisschen aushebelt. Im übrigen stehen noch ein paar schwierige Kandidaten vor einer Volksbefragung: die Polen, die Tschechen, die Iren, die Dänen, die Engländer, allesamt schwierige Europäer mit einem schwierigen Verhältnis zur EU. Da könnte auch aus einem 16: 2 schnell ein 16 : 7 zu werden. Und dann wäre der Wiederbelebungsversuch endgültig gescheitert.

Erste-Hilfe-Wagen rollt an

Das Nein der Franzosen und der Niederländer zur europäoischen Verfassung hat die EU in eine tiefe Bewusstseinskrise gestürzt. Deswegen sind die Versuche gerade aus dem Parlament verständlich, zu retten was von der Verfassung zu retten ist. Aber auch die Abgeordneten müssen einsehen, dass nach dem zweifachen Nein der alte lateinische Satz gilt: Roma locuta, causa finita est. Rom, sprich das Volk, hat gesprochen, die Sache ist erledigt. Die Verfassung ist also, wie die Österreicher mit einem schönen Schmäh sagen würden, a schöne Leich. Es wird aber nichts daran ändern, dass in den nächsten Monaten der europäische Erste-Hilfe-Wagen Fahrt aufnimmt, um die schöne Idee einer europäischen Verfassung doch noch zu retten.