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Rechtsstaatliches Dilemma

Rainer Sollich 28. August 2003

Der Islamistenführer Kaplan darf trotz Aberkennung des Asyl-Status nicht in die Türkei abgeschoben werden. Dort drohe dem Chef des "Kalifatsstaats" möglicherweise ein unfairer Prozess, befand ein deutsches Gericht.

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Das jüngste Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts zum Fall Metin Kaplan hat in Deutschland große Empörung hervorgerufen. Und diese Empörung ist durchaus verständlich: Da wurde der Chef einer kleinen, aber gewaltbereiten islamisch-fundamentalistischen Sekte schon vor Jahren wegen Aufrufs zum Mord verurteilt. Der Mann hetzte jahrelang öffentlich gegen die Demokratie und gegen Juden. Er verlor folgerichtig auch seinen Anspruch auf den Status eines politischen Flüchtlings. Aber er darf nun trotzdem nicht in sein Heimatland abgeschoben werden. Weil ihm in der Türkei angeblich ein unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten unfaires Gerichtsverfahren droht.

Das Urteil ist nicht das erste und vermutlich auch nicht das letzte im Fall Kaplan. Aber es offenbart ein Dilemma der deutschen Rechtssprechung, das für Außenstehende vermutlich ähnlich schwer nachzuvollziehen ist wie für viele Bürger in Deutschland: Ausländer, denen in ihrer Heimat Willkür droht, können selbst dann nicht abgeschoben werden, wenn sie sich hierzulande in schwerem Maße strafbar gemacht haben. Ausländische Extremisten aus nicht-demokratischen Staaten werden dadurch regelrecht zum Missbrauch des deutschen Ausländerrechts ermutigt. Ihnen kann ja nicht viel passieren - während Straftäter aus demokratischen Rechsstaaten in aller Regel mühelos abgeschoben werden können.

Geschichtlicher Hintergrund

Über die Notwendigkeit von Reformen im Ausländerrecht mag man streiten. Aber dass das deutsche Recht so ist, wie es ist, hat seinen Grund: Nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit galt es in Deutschland lange als Konsens, niemanden der Willkür von Regierungen auszuliefern, die rechtsstaatliche Prinzipien nicht ausreichend achten.

Denn zahlreiche Deutsche flohen zwischen 1933 und 1945 ins Ausland und entkamen so dem damaligen Unrechts-Regime. Der Konsens, Ausländer im Zweifelsfall zu schützen, wurde inzwischen zwar durch die Verschärfung des Asylrechts aufgeweicht. Aber es wirkt bis heute fort und macht - trotz gelegentlichen Missbrauchs - auch nach wie vor eine der Stärken des deutschen Rechtsstaats aus. Denn es schützt auch Menschen, die deutschen Schutz definitiv verdienen.

Demokratie fördern

Metin Kaplans Heimatland macht in jüngster Zeit zwar bemerkenswerte demokratische Fortschritte. Aber ein Rechtsstaat nach westlichen Vortstellungen ist die Türkei noch nicht. Und auch wenn das Abschiebe-Verbot für den Extremisten Kaplan auf den ersten Blick dem gesunden Menschenverstand widerspricht: Nach geltendem Recht geht die Begründung der Richter in Ordnung. Kaplan würde in der Türkei vermutlich wegen Anführerschaft einer gewalttätigen und staatsfeinlichen Organisation vor Gericht gestellt. Und das Gericht ist zu dem Schluss gekommen: Ein faires Verfahren gegen ihn wäre zumindest nicht sicher. Was nicht ausschließt, das ein Berufungsverfahren demnächst zu einem anderen Urteil kommen könnte.

Und noch etwas ist wichtig: Der Fall Kaplan ist ein weiterer Beweis dafür, dass es stets im ureigensten Interesse Deutschlands ist, in anderen Ländern aktiv Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu fördern. Denn wenn das türkische Rechtssystem schon so weit fortentwickelt wäre, wie es der jetzigen Regierung in Ankara vorschwebt, dann würde sich das Problem Kaplan in Deutschland gar nicht mehr stellen. Man könnte ihn dann guten Gewissens der türkischen Justiz überlassen.