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Referendum mit Schönheitsfehler

14. April 2003

Hohe Zustimmungsrate bei niedriger Beteiligung - Ungarns Wähler bejahen den EU-Beitritt ihres Landes. Tamas Szabo kommentiert.

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Vielleicht lag es ja an der Wahl des Wochentags - der Samstag ist für viele Ungarn Arbeitstag, und normalerweise finden auch in Ungarn Wahlen und Volksabstimmungen an Sonn- und Feiertagen statt. Und so gingen am Samstag (12.4.) nur rund 45 Prozent der Wahlberechtigten zu den Wahlurnen, um über den EU-Beitritt ihres Landes abzustimmen. Und das taten sie mit der überzeugenden Mehrheit von rund 84 Prozent Ja-Stimmen. Ministerpräsident Péter Medgyessy erklärte stolz: Die Ungarn hätten die Zukunft ihrer Kinder und ihres Landes gesichert.

83,7 Prozent sind ein klares und gutes Ergebnis - trotz der enttäuschend niedrigen Beteiligung. Es demonstriert: Die Ungarn bejahen die EU-Mitgliedschaft des Landes. Und das ist keine Überraschung. Nach der Wende 1989/1990 hatte man erkannt: Entweder fährt man auf der Autobahn in Richtung der Europäischen Union oder auf einem Feldweg mit Schlaglöchern ins Niemandsland.

Dieser Erkenntnis folgten Taten. 1994 beantragte Ungarn die EU-Mitgliedschaft und traf die nötigen Vorbereitungen, um die Aufnahme-Kriterien erfüllen zu können. Verfestigt wurden die demokratischen Strukturen wie auch die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. Die Neuorientierung der Außenwirtschaftsbeziehungen wurde vorangetrieben - in Richtung Westen.

Das Ergebnis lässt sich jetzt sehen: 75 Prozent der ungarischen Ausfuhren gingen 2002 in die Länder der Europäischen Union; der Anteil der EU-Importe lag bei 56 Prozent. Zu Recht betonen ungarische Politiker immer wieder: Wirtschaftlich gesehen sei das Land schon längst ein Mitglied der Europäischen Union. Inzwischen ist auch die politische Integration unter Dach und Fach, nur die Unterschriften fehlen. Nach dem EU-Referendum kann Ungarns Ministerpräsident Péter Medgyessy am 16. April in Athen ruhigen Herzens den Beitrittsvertrag unterschreiben - die Wähler haben ihm den Auftrag zu diesem historischen Schritt erteilt. Damit wird ein Projekt erfolgreich zu Ende geführt - ein Projekt, das man in Ungarn nie ernsthaft in Frage gestellt hat.

Alle Regierungen seit der Wende trieben das Vorhaben voran, und zwar mit Unterstützung aller parlamentarischen Parteien. Einzige Ausnahme bildet die rechtsextreme MIÉP, die Ungarische Wahrheits- und Lebenspartei, die die Wähler jedoch bei den Parlamentswahlen 2002 zur Bedeutungslosigkeit degradierten. Auch die Ergebnisse der Meinungsumfragen spiegelten das EU-Fieber wider. Denn die Zustimmungsrate lag nie unter 65 Prozent.

Jedoch soll nicht unterschlagen werden, das es auch in Ungarn durchaus ernst zu nehmende Ängste und Vorbehalte gegen den EU-Beitritt gab und gibt. So befürchten viele Bürger den Ausverkauf des Landes, wenn Ausländer Grund und Boden erwerben können, und erwarten Preissteigerungen - vor allem bei der Energieversorgung. Es herrscht Angst um die Arbeitsplätze und darum, dass man dem noch härter werdenden Wettbewerb in der Wirtschaft nicht gewachsen sein werde. Zudem haben die Ungarn Schwierigkeiten damit, dass sie Souveränitätsrechte an Brüssel abgeben müssen.

Aus historischer Perspektive ist es verständlich: In den vergangenen Jahrhunderten hatten Türken, Habsburger und nach dem Zweiten Weltkrieg die Russen die Souveränität des Landes stark eingeschränkt. Und gerade die Wende, das Ende des Kalten Krieges, bedeutete die Zurückgewinnung der vollständigen politischen Freiheiten. Und davon soll man nun sofort und freiwillig wieder einiges abgeben?

Solche und ähnliche Fragen und Ängste wurden einige Monate vor dem Referendum innenpolitisch noch einmal kräftig angeheizt. Ex-Premier Viktor Orbán von der konservativen Partei FIDESZ-MPP übernahm den Part der Zweifler und die Vertretung potentieller Verlierer mit diesem Argument: Der Beitritt sei zu katastrophalen Bedingungen erkämpft worden. Eine etwas gewagte Kritik, denn seine Regierung hatte 24 von 31 Kapiteln des Katalogs der Beitrittskriterien selbst ausgearbeitet.

Dahinter steckt innenpolitisches Kalkül. Orbán, der seine Wahlniederlage 2002 nicht verdauen kann, hat schon die nächsten Parlamentswahlen vor Augen. Deshalb versuchte er das Referendum zu nutzen, um die Wähler zu polarisieren. Mit dem Ergebnis, dass die Zustimmungsrate im Januar 2003 auf 58 Prozent absackte. Der Schock saß tief und die Regierung versuchte mit einer professionellen und mitreißenden Kampagne die Massen zu mobilisieren. Sie erreichte jedoch nur die Befürworter. Als Fehler erwies sich, dass man sich zu sehr auf das Werben um die Ja-Stimmen konzentrierte und versäumte hatte, zu betonen, dass die Beteiligung an dem Referendum ein Zeugnis demokratischer Reife sei. So blieben viele erklärte Gegner des EU-Beitritts zu Hause. In manchen armen Bezirken im Osten des Landes gab nur ein Drittel der Wahlberechtigten die Stimme ab.

Trotz dieser Schönheitsfehler des Referendums bleibt zu konstatieren: Die Mehrheit der Ungarn ist davon überzeugt, dass es zur EU keine Alternative gibt und dass und die Vorteile des Beitritts die Nachteile überwiegen. Das Ergebnis des EU-Referendums erweist sich als wertvoll, weil es nicht auf Illusionen und Hurraoptimismus basiert. Es ist ein Resultat pragmatischer Abwägung, die das Land in die westliche Wertegemeinschaft bringt.