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Reformen ohne Ende

Thomas Kohlmann19. November 2003

Wolfgang Clement ist auf dem SPD-Parteitag von der Basis mit miserablen Wahlergebnissen abgestraft worden. Ein Grund ist der arbeitsmarktpolitische Kurs des Wirtschaftsministers.

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Länger oder kürzer arbeiten?Bild: AP

Die Ohrfeige der Parteibasis bei der Wahl zum SPD-Vorstand war unmissverständlich: Clements provokanter Politikstil erzürnt die Genossen. Jüngstes Beispiel: Seine Ablehnung einer Ausbildungsabgabe - gegen den Willen der Parteispitze. Doch auch andere Bekenntnisse des Wirtschaftsministers stoßen in seiner Partei auf wenig Gegenliebe. Besonders starker Gegenwind kommt aus dem Gewerkschaftslager: Etwa, wenn der gebürtige Bochumer für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt oder für eine Verlängerung der Arbeitszeit eintritt. Bei Arbeitsmarkt-Experten rennt der Wirtschaftsminister dabei offene Türen ein.

Selbst Konjunktur-Gurus mit sozialdemokratischem Background, wie Christoph Schmidt, räumen ein: "Langfristig wird sich Deutschland dem internationalen Trend zu Mehrarbeit wohl nicht entziehen können." Der Chef des gewerkschaftsnahen Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) spricht aus, was bei vielen SPD-Linken und Gewerkschafts-Vertretern für Entsetzen sorgt.

Länger Arbeiten für mehr Jobs?

Erst kürzlich rechnete das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) vor, dass bei nur einer Stunde Mehrarbeit pro Woche stattliche 1,5 Prozent zusätzliches Wirtschaftswachstum herauskommen würden. Bei einer IW-Wachstumsprognose von 1,75 Prozent für das nächste Jahr würde das dem Arbeitsmarkt den lang ersehnten Schub verpassen. Ungefähr bei einem Wachstum von 1,7 Prozent vermuten Konjunkturorakel nämlich die sogenannte Beschäftigungsschwelle, die überschritten werden muss, damit neue Jobs entstehen. "Offensichtlich verzichten wir seit Jahren auf Wachstum, um viel Freizeit als einen Aspekt der Lebensqualität aufrechtzuerhalten", unterstreicht RWI-Chef Schmidt.

Hinkendes Beispiel USA

Schon seit Jahren predigen Arbeitgeber, dass Deutschland erst dann wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen werde, wenn die Deutschen wieder mehr arbeiten. Leuchtendes Beispiel sind meist die Amerikaner.

Tatsächlich arbeiten US-Beschäftigte deutlich länger als bei uns. Sie bringen es auf eine durchschnittliche Jahresarbeitszeit von 1825 Stunden. Die Europäer liegen zwar deutlich darunter, in einigen Ländern des alten Kontinents sind die Berufstätigen dennoch effizienter als ihre amerikanischen Kollegen.

Die Studie der International Labour Organization (ILO) in Genf hatte es an den Tag gebracht: Amerikanische Arbeiter müssen erheblich länger arbeiten, um ihre Kollegen in Europa bei der Produktivität zu übertreffen. Die Norweger waren mit 38 Dollar die Nummer Eins, gefolgt von Franzosen und Belgiern mit 35 und 34 Dollar. Die Amerikaner schafften es trotz längerer Arbeitszeit mit 32 Dollar lediglich auf Rang vier.

Für den vierten Rang müssen die Amerikaner mit 1825 Stunden im Jahr aber erheblich mehr schuften als andere Industrienationen. Schweden arbeiten 1.581 Stunden, Franzosen 1.545 Stunden und Iren 1.668 Stunden. In Deutschland, so die Zahlen der ILO aus dem September 2003, muten sich im Schnitt nur 1.444 Arbeitsstunden im Jahr zu.

Zahlen mit Vorsicht genießen

"Solche Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen", warnt jedoch Holger Schäfer vom IW: "Allein durch schwankende Wechselkurse verzerrt sich das Bild, wieviel ein Arbeitnehmer erwirtschaftet. Wenn Sie dann noch berücksichtigen, dass in den USA der Anteil der Erwerbstätigen weitaus höher ist als in Deutschland, dann relativiert sich auch ein Wert wie das Pro-Kopf-BIP."

Der Bremer Arbeitsmarktforscher Helmut Spitzley erteilt allen Forderungen nach Mehrarbeit eine Abfuhr: "Längere Arbeitszeiten führen zu Personalüberhängen, machen Entlassungen wahrscheinlich und blockieren die Anstellung von Berufseinsteigern." Und er setzt noch einen drauf: "Beides geht zu Lasten der Sozialsysteme, weil die Zahl der Beitragszahler sinkt." Spitzley empfiehlt in der gegenwärtigen Lage eher eine weitere Absenkung der Arbeitszeiten.

Kein Wunder, dass selbst IW-Forscher Schäfer einräumt, was letztendlich die Crux ist beim Thema Arbeitszeit: "Es gibt eben kein Parallel-Universum, in dem wir ausprobieren können, was zu mehr Beschäftigung führt. Aber eines kann man wohl sagen: Die kontinuierliche Verkürzung der Arbeitszeit hat in Deutschland nicht zu mehr Jobs geführt – jeder, der etwas anderes sagt, soll mir einmal die 4,5 Millionen Arbeitslosen erklären."