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Regierungskrisen in Osteuropa: Ausnahme oder Regel?

9. Februar 2006

Innerhalb weniger Monate kam es in der Ukraine zu zwei Regierungskrisen. Ein Blick ins benachbarte Ausland zeigt jedoch: Skandale um Regierungen sind aber nicht nur ein ukrainisches Phänomen. Zwei Beispiele.

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Junge Demokratien im politischen ReifeprozessBild: AP Graphics

Seit 1989 gab es in Polen 12 Regierungen. Sie waren alle, mit Ausnahme der jetzigen, Koalitionsregierungen. Die meisten Regierungen überlebten nicht lange. Den Rekord von vier Jahren, also eine komplette Amtszeit, hält die konservative Regierung unter Jerzy Buzek, die Ende der 90er Jahre die Macht übernahm. Aber in jenen vier Jahren wurden 21 Minister ausgetauscht. Seit 1989 ist es keiner Regierung in Polen gelungen, für eine zweite Amtszeit bestätigt zu werden. Für eine junge Demokratie sind vorzeitige Regierungswechsel positiv. Das meint der Publizist Michal Zielinski. Er unterstrich im Gespräch mit der Deutschen Welle, die Regierungen würden selbst von einer kurzen Amtszeit ausgehen. Deswegen würden sie sich nicht so stark in die Wirtschaft einmischen und Unternehmer behindern.

In Polen schlägt der Präsident dem Parlament einen Kandidaten für das Amt des Premierministers zur Bestätigung vor. Der Regierungschef schlägt seinerseits Kandidaten für die Ministerämter vor. Das Parlament spricht mit der Mehrheit seiner Stimmen dem Regierungschef sein Vertrauen aus. Die jetzige polnische Regierung, die seit Herbst vergangenen Jahres besteht, ist eine Minderheitsregierung, gebildet von der konservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit", die über keine Mehrheit im Parlament verfügt und sich auf Zufallsbündnisse stützt. Viele polnische Experten schließen eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen nicht aus.

Estland: Regierungswechsel ohne Politikwechsel

Seit der Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens gab es in diesen Ländern ebenfalls viele Regierungen. Beispielsweise regierten in Estland in den vergangenen 15 Jahren neun Kabinette. Regierungen, die länger als zwei Jahre hielten, gelten als langlebig.

Experten zufolge sind durch die noch junge Demokratie in den baltischen Ländern unendlich viele Parteien entstanden, mit Programmen, die voneinander schwer zu unterscheiden sind. Manche schenken sozialen Problemen mehr Aufmerksamkeit, manche der Arbeitslosigkeit oder den Rentnern. Aber fast alle estnischen Parteien sind konservativer Ausrichtung. Deswegen verändern die Regierungswechsel weder die Innen- noch Außenpolitik. Der Politologe Eduard Tinn unterstrich gegenüber der Deutschen Welle, man dürfe auch nicht vergessen, dass die baltischen Länder klein seien, dass dort jeder jeden kenne, dass vielleicht unter den heutigen Politikern noch Rechnungen aus deren Kindheit untereinander zu begleichen seien.

Konsens in der Innen- und Außenpolitik

Der deutsche Politikwissenschaftler Gerhard Simon ist der Ansicht, dass es unterschiedliche Gründe für die häufigen Regierungswechsel in den Ländern Mittel- und Osteuropas gibt. In allen postkommunistischen Ländern gebe es immer noch kein stabiles Parteiensystem. Parteien würden schnell entstehen und wieder verschwinden. Schwierig sei auch, das Verhalten der Wähler vorherzusehen. In jungen Demokratien würden die Menschen dazu neigen, bei der nächsten Wahl für die Kräfte zu stimmen, gegen die sie bei der letzten Wahl votiert hätten. Das trage natürlich zu Instabilität bei. Simon unterstrich aber im Gespräch mit der Deutschen Welle, Instabilität sei in gewisser Weise Voraussetzung für die Entstehung echter demokratischer Verhältnisse. Er betonte, eine erfolgreiche demokratische Entwicklung sei ungeachtet häufiger Regierungskrisen nur dann möglich, wenn bezüglich der Hauptrichtlinien für die Innen- und Außenpolitik Konsens bestehe. Einen solchen Konsens habe es in den vergangenen 15 Jahren in Polen und in den baltischen Ländern gegeben. Keine politische Kraft habe dort das Ziel einer EU- und NATO-Mitgliedschaft, aber auch die Einführung der Marktwirtschaft in Frage gestellt.

Ukraine: Uneinigkeit als Risiko

In der Ukraine gibt es Simon zufolge in einer sehr abstrakten Form auch einen gewissen Konsens, was die pro-westliche Ausrichtung betrifft. Der Politologe meint aber, dass jede politische Kraft die pro-westliche Ausrichtung anders begreife. Häufig handele es sich dabei sogar um völlig entgegengesetzte Standpunkte. Hinzukomme, dass es in den östlichen Regionen starke politische Kräfte gebe, für die eine euroasiatische Ausrichtung nicht weniger wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger als die pro-westliche sei. Uneinigkeit herrsche in der Ukraine auch bezüglich der Marktwirtschaft, darüber, was darunter zu verstehen sei und wie sie eingeführt werden solle. Außerdem gebe es starke protektionistische Kräfte, die für die staatliche Kontrollfunktion in der Wirtschaft und gegen freien Wettbewerb eintreten würden. Diese Uneinigkeit in den wichtigsten politischen Fragen sei in der Ukraine ein Risiko.

W. Prjadko, A. Zuckermann, W. Medyany
DW-RADIO/Ukrainisch, 5.2.2006, Fokus Ost-Südost