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"Reichsbürger"-Prozess in Frankfurt hat begonnen

Veröffentlicht 28. April 2024Zuletzt aktualisiert 20. Mai 2024

Die mutmaßliche "Terrorgruppe Reuß" plante offenbar einen bewaffneten Umsturz. Der mögliche Rädelsführer und weitere Beschuldigte wollten die Demokratie abschaffen, Politiker entführen und die Regierung übernehmen.

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Älterer Mann mit Brille sitzt auf der Anklagebank - es ist der "Reichsbürger" Reuß
Der Hauptangeklagte vor Gericht in Frankfurt am Main - Heinrich XIII. Prinz Reuß Bild: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Spektakulär ist dieser Prozess schon vor seinem Beginn: Extra für das Verfahren gegen die insgesamt neun angeklagten sogenannten "Reichsbürger" um Heinrich XIII. Prinz Reuß vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main wurde ein neuer Verhandlungssaal gebaut, eine Leichtbauhalle am Stadtrand der Main-Metropole. Der Grund: Der eigentliche Verhandlungssaal in der Stadtmitte wird saniert. Aber auch die besonderen Sicherheitsvorkehrungen und die Dimension des Prozesses machten den Neubau nötig. 

Leerer Gerichtssaal mit Bestuhlung und Tischen
Der neue Verhandlungssaal - extra für den Reichsbürgerprozess errichtet; neun Angeklagte, 25 Verteidiger, Richter und 120 Zuschauer Platz finden hier PlatzBild: Renate Haller/epd

Die Gruppe um Reuß plante wohl nichts weniger als einen Staatsstreich: Sie wollte laut Anklage in den Deutschen Bundestag eindringen und Abgeordnete festnehmen. Besonders im Visier der kruden Vereinigung: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und CDU-Chef Friedrich Merz.

Doch eine bundesweite Razzia kam der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung "Patriotische Union" am 7. Dezember 2022 zuvor: 25 Personen wurden festgenommen, darunter Reuß, die meisten von ihnen sitzen seitdem in Untersuchungshaft. 382 Schusswaffen konnten sichergestellt werden und fast 150.000 Munitionsteile. Vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart begann Ende April der erste von drei Prozessen gegen die Gruppe, die insgesamt auf rund 200 Personen geschätzt wird. Später folgt noch ein Verfahren in München.

Prozess gegen "Reichsbürger"-Netzwerk

Warten auf ein Signal für den Staatsstreich

Im Mittelpunkt des jetzigen Prozesses in Frankfurt: Heinrich XIII. Prinz Reuß, ein 72 Jahre alter Immobilienmakler aus Frankfurt am Main. Er war in den Planungen der Reichsbürger-Gruppe wohl nach der Machtübernahme als Staatschef vorgesehen. Bereits für den September 2022 erwartete die Gruppe laut Anklage eine Art Signal von Mitverschwörern, um nach der Macht zu greifen. Zu diesen Mitverschwörern zählten die "Reichsbürger" geheime Gruppen, gebildet von Mitgliedern auch ausländischer Regierungen, von Armeen und Geheimdiensten.

Innenministerin Nancy Faeser spricht im Bundestag
Bundesinnenministerin Nancy Faeser: "Wir müssen die Demokratie jeden Tag verteidigen"Bild: Nadja Wohlleben/REUTERS

Nach der Festnahme der Gruppe um Reuß gab es weitere Razzien und Verhaftungen. Zum Prozessauftakt in Frankfurt sagte Innenminister Nancy Faeser (SPD): "Es ist gut, dass sich ab heute auch die mutmaßlichen Rädelsführer der bislang größten Terrorgruppe von 'Reichsbürgern' vor Gericht verantworten müssen." Und weiter: "Es handelt sich nicht um harmlose Spinner, sondern um gefährliche Terrorverdächtige." 

Gewaltsame Übernahme einer Waffenschmiede?

Zur Gewalt bereit, fabulierte die Gruppe um Prinz Reuß offenbar über den Einsatz von Bundeswehrhubschraubern, geflogen von Unterstützern in der deutschen Armee. Sogar die gewaltsame Übernahme des deutschen Waffenkonzerns Heckler&Koch mit Sitz in Oberndorf am Neckar soll geplant gewesen sein. Vorgeworfen wird den Angeklagten Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung beziehungsweise deren Unterstützung. Alle drei Prozesse zusammen werden wohl Mammut-Verfahren werden, in denen auch die Ideologie der Gruppe zentrales Thema sein wird.

Wahnhafte Fantasien um tote Kinder

Und diese Ideologie hat es laut Anklage in sich: Nach Ansicht von Prinz Reuß soll Deutschland von einer Art innerem Staat, einem "deep state" regiert sein, der es sich zum Ziel gesetzt habe, den Mord an Kindern und Jugendlichen im großen Stil zu organisieren. Keine Fantasie war wahnhaft genug: Die Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal in Nordrhein-Westfalen im Sommer 2021 war nach dieser Denkart nur der Versuch, den Mord an Kindern durch das Fluten alter Regierungsbunker zu vertuschen. Von 600 toten Kindern soll im Umfeld von Reuß' Anhängern die Rede gewesen sein.

Fünf Polizisten in Schutzmontur unterhalten sich
Ein großer Schlag gegen die Reichsbürger-Szene gelang der Polizei im Dezember 2022Bild: Uli Deck/dpa/picture alliance

Frühere AfD-Abgeordnete im "Reichsbürger"-Prozess angeklagt

Dagegen setzte die Gruppe nach Überzeugung der Staatsanwaltschaften die Idee der gewaltsamen Machtübernahme. Danach wollten die Verschwörer mit den früheren Kriegs-Alliierten aus den USA, Frankreich und Großbritannien, vor allem aber mit Russland, über einen neuen Friedensvertrag verhandeln. Um das Ganze vorzubereiten, veranstaltete die Gruppe offenbar Schießübungen und spähte schon mal die Räume des Bundestages aus, um am Tag der Machtübernahme bereit zu sein.

Demonstranten mit Flaggen vom Königreich Preußen
Das Deutsche Reich ist für die Reichsbürger, hier mit Fahnen des Königsreichs Preußen im Oktober 2023 in Dresden, nie untergegangenBild: Daniel Schäfer/dpa/picture alliance

Unter den Angeklagten ist auch ein ehemaliger Oberstleutnant der Bundeswehr und die frühere Bundestagsabgeordnete der rechtspopulistischen "Alternative für Deutschland" (AfD), Birgit Malsack-Winkemann, eine ehemalige Richterin. Sie steht zusammen mit Prinz Reuß in Frankfurt vor Gericht. Im neuen Staat der "Reichsbürger" war Malsack-Winkemann offenbar als Justizministerin vorgesehen.

"Reichsbürger" - gefährliches Milieu von fast 20.000 Menschen

Die "Reichsbürger" insgesamt werden in Deutschland von den Sicherheitsbehörden auf 20.000 Menschen geschätzt, davon seien etwa 2300 gewaltorientiert. Gemeinsam sind ihnen die Ablehnung der Demokratie, monarchistische Tendenzen, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Die "Reichsbürger" erkennen die Nachkriegsordnung und die Bundesrepublik als legitimen Nachfolger des Deutschen Reiches nicht an. Teilweise drohen "Reichsbürger" offen mit Gewalt oder üben sie aus, sie drohen auch mit Entführungen, etwa von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

Bei einer Razzia gegen sogenannte "Reichsbürger" führen vermummte Polizisten, nach der Durchsuchung eines Hauses Heinrich XIII Prinz Reuß zu einem Polizeifahrzeug
Seit seiner Festnahme im Dezember 2022 in Frankfurt am Main sitzt Heinrich XIII. Prinz Reuß in UntersuchungshaftBild: Boris Roessler/picture alliance/dpa

Der Autor Tobias Ginsburg hat acht Monate verdeckt in der Szene recherchiert. Während der Corona-Pandemie von 2020 bis 2023 tauchte er auch bei radikalen Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern unter. Er sagte der DW im März vergangenen Jahres auf die Frage, ob die Bewegung wirklich eine Gefahr darstellt: "Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, wie es zunächst scheint. Denn die Reichsbürger sind keine einheitliche Bewegung, nicht ein eigener Typus des Extremismus. Das ist mehr eine Verschwörungstheorie, die tief verankert ist in der deutschen Geschichte und im Nationalsozialismus." Aber die Gruppe teile die Fantasie aller rechtsextremen Aktivisten: "Es ist die Idee einer homogenen Gesellschaft, ohne die Anderen, die Fremden." 

Für die Angeklagten gilt bis zu einem etwaigen Urteil die Unschuldsvermutung. In allen drei Prozessen wird mit Urteilen wohl erst im nächsten Jahr gerechnet. 

Dieser Artikel wurde erstmals am 28. April 2024 veröffentlicht und am am 21. Mai aktualisiert