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"Religiös unmusikalisch"

18. Juni 2009

Jürgen Habermas: Er prägte das philosophische und politische Klima der Bundesrepublik entscheidend mit. Mit der "Theorie des kommunikativen Handelns" bestimmt er die Geisteswissenschaften weit über Deutschland hinaus.

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Jürgen Habermas
Habermas an der Frankfurter UniversitätBild: ullstein bild - Meller Marcovicz

Die himmlischen Dinge mögen ihre Bedeutung haben, aber mindestens ebenso wichtig sind die irdischen. Denn zweifelsfrei lebt der Mensch allein auf Erden. Dass es nach dem Ableben für ihn irgendwo anders weitergeht, mag man hoffen. Sicher ist es aber nicht. Insofern kommt es darauf an, sich zunächst auf das Naheliegende, also das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Das Diesseitige ist wichtig genug, um es mit einer gewissen Sensibilität anzugehen. Das Jenseitige aber sollen andere erkunden. Ungefähr das hatte Jürgen Habermas im Sinn, als er in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2001 bekannte, er sei „religiös unmusikalisch“. Nein, die Melodien aus anderen Sphären vermochte er nicht zu erfassen, so bekundete er es einige Jahre später mit derselben Wendung auch noch mal in einem Gespräch mit Kardinal Josef Ratzinger. „Religiös unmusikalisch“: Ganz nebenbei hatte der Philosoph einen fast vergessenen Ausdruck des Soziologen Max Weber in die Gegenwart geholt und geholfen, es zu einem „geflügelten Wort“ werden zu lassen.

Habermas
Engagierter Denker: Jürgen HabermasBild: AP

Engagement und Eleganz

Dass Habermas auf Webers hübsches Wort zurückgreift, bekundet nicht zuletzt auch die sprachliche Sensibilität des Philosophen. "Erkenntnis und Interesse"; "Faktizität und Geltung"; "Wahrheit und Rechtfertigung": Das sind Titel, die es zumindest im akademischen Betrieb zu einiger Popularität gebracht haben, allein schon aufgrund ihres beinahe magischen Klangs, mit dem sie scheinbar bekannte Begriffe aneinander band, diese in neues Licht tauchte. So paarte sich, was über Jahrzehnte zum Markenzeichen der Habermas'schen Philosophie wurde: Engagiertes Denken und eleganter Stil – auch wenn dieser Stil hohe Anforderung an die Geduld und Dechiffrierungskunst seiner Leser stellte.

Habermas
Soziologe und Philosoph HabermasBild: picture-alliance / akg

Eine politisierte Generation

Aber so ist es eben: Die Dinge sind nicht einfach. Vor allem muss man, wenn man sie anspricht, genau sein. Denn Ambivalenz mag gut für die Dichtung sein, in der Philosophie, zumal der politischen Philosophie, ist sie fehl am Platz. Und Habermas ist ein politischer Philosoph par excellence. Das kann kaum anders sein bei einem, der in jungen Jahren das Ende einer Katastrophe erlebte. Wie Martin Walser, Günter Grass, Siegfried Lenz, Ralf Dahrendorf und alle anderen führenden Intellektuellen und Künstler der späteren Bundesrepublik wuchs auch Jürgen Habermas, Jahrgang 1929, im Schatten des Nationalsozialismus auf. Diese Erfahrung drückte seinem ganzen Lebenswerk den Stempel auf: Was war geschehen, dass es so weit kommen konnte? Was war in die Deutschen gefahren, dass sie 1933 einen tobenden, vulgären Antisemiten zum Reichkanzler wählten? Und vor allem: Wie ließe sich verhindern, dass es zu einer derartigen Konstellation und Stimmung noch einmal käme?

Habermas, Mitscherlich
Immer im Gespräch: Habermas mit Psychoanalytiker Alexander MitscherlichBild: ullstein bild - Meller Marcovicz

Philosophie nach dem Sündenfall

Diese Frage steht am Ursprung der Habermas'schen Philosophie. Sie inspirierte ihn zu jenen komplexen Kommunikationsmodellen, jenen Entwürfen öffentlicher Instanzen und Mechanismen, in denen die Mitglieder ihrer Gesellschaft ihre unterschiedlichen Interessen miteinander in Ausgleich bringen könnten. "Konsensual" nannte man diese Gesellschaftsmodelle, und der Begriff traf wie wenig andere das Selbstverständnis der Bundesrepublik. Keine Befehle von oben sollten die Bürger mehr empfangen, stattdessen selbst öffentlich intervenieren, ihre Standpunkte erkennbar formulieren und in eine umfassende Diskussion einfließen lassen, an deren Ende der Kompromiss stand. So entsprachen die Habermas'schen Gesellschaftsentwürfe exakt jener dem Dialog verpflichteten Friedfertigkeit, die sich die Bundesrepublik nach dem nationalsozialistischen Sündenfall auf die Fahnen schrieb.

Der Klang des Denkens

Wäre die Bundesrepublik Deutschland ohne Habermas eine andere geworden? Wohl kaum. Allerdings hätte ihr zu Teilen jener spezifische Klang gefehlt, in dem Habermas das Werden dieser Republik philosophisch kommentiert. Und dieser Klang – abstrakt, hermetisch, unzugänglich, wie er war –, dieser Klang entsprach genau jenem, den die Pop- und Rockmusik seit den 60er Jahren ins Land trug. Beide arbeiteten sie jener weltoffenen Atmosphäre zu, die die Bundesrepublik in der Folgezeit immer stärker prägte. So spielte Jürgen Habermas auf seine Art die Begleitmusik zu jenem langen Marsch, auf den sich die nachkriegsdeutsche Gesellschaft begeben hatte, auf dem sie ein für alle Mal den Abschied aus der Provinz nahm.

Autorin: Kersten Knipp
Redaktion: Elena Singer