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Revolution auf Spanisch

20. Mai 2011

Spaniens Protestbewegung hat das Land im Griff - zumindest die öffentlichen Plätze. Tausende kampieren in Madrid und anderswo. Kurz vor den Kommunalwahlen fordern sie mehr Demokratie.

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Kampierende Demonstranten in Madrid (Foto: dpad)
Madrid in AufruhrBild: dapd

In Spanien passiere gerade etwas Großes, so heißt es zumindest in vielen Kommentaren im Internet. Die "spanish revolution", die sich auf der Straße abspielt, fordert umfassende Reformen: das Ende des Zweiparteiensystems und ein Wandel der politischen Kultur des Landes. "Ich habe oft das Gefühl, dass wir hier in Spanien ungefähr da sind, wo wir in Deutschland Mitte der 1970er-Jahre waren: die erste große Wirtschaftskrise, die großen Zweifel und das Aufkommen neuer politischer Organisationsformen", vergleicht Lothar Witte. Er ist Vertreter der Friedrich Ebert Stiftung in Madrid. "Wir erleben vielleicht gerade den Beginn einer Veränderung des politischen Systems in Spanien." Witte meint damit die Abkehr vom Zweiparteiensystem und das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen. "Das bringt die Parteien womöglich dazu, sich auch etwas anders gegenüber dem Wahlvolk aufzustellen", fügt er hinzu.

Erschöpfte Aktivisten auf dem Sol Platz in Madrid (Foto: AP)
Erschöpfte Aktivisten auf dem Sol Platz in MadridBild: AP

"15-M" nennt sich die neue soziale Bewegung, weil sie am 15. Mai 2011 mit einer Reihe von Demonstrationen begann, als Tausende von Menschen auf die Straßen gingen. Dort wollen sie auch bleiben, zumindest bis zu den Kommunalwahlen an diesem Sonntag (22.05.2011). Falls nötig, aber auch länger. Zelte und Schlafsäcke sieht man überall auf den zentralen Plätzen in Spaniens Städten. Es sind nicht nur junge Leute, die auf dem inzwischen überfüllten Platz La Puerta del Sol in Madrid auch nachts ausharren. Sie trotzen dem Regen und dem Protestverbot der spanischen Wahlkommission. "Wir gehen nicht weg!", sagen sie. Und: "Echte Demokratie, jetzt!"

Ein überholtes Zweiparteiensystem

"Meine Gegenwart ist düster und meine Zukunft ungewiss", beschreibt eine Demonstrantin ihre Situation. Die Beschreibung gilt stellvertretend für viele. "Dahinter steckt eine große Frustration über das Ende eines langen ökonomischen Booms", sagt Witte und ergänzt, dass damit auch die Zukunftsperspektiven schwinden. Aus seiner Sicht steht die Unzufriedenheit über die Politiker im Zusammenhang mit den zusehends schlechter werdenden Arbeitsbedingungen - sofern man Arbeit hat. Denn landesweit sind über 20 Prozent der Spanier arbeitslos, unter den Jugendlichen sind es sogar 45 Prozent. Obwohl die sozialdemokratisch orientierte Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero der politischen Ausrichtung der Friedrich-Ebert-Stiftung nahe steht, spart Witte nicht mit Kritik. "Ich bin in Spanien vor zweieinhalb Jahren angekommen. Da war der Boom gerade zu Ende, aber man hatte das Gefühl, die Fiesta geht immer noch weiter", erklärt Witte. "Zapatero hat leider lange Zeit fast schon geleugnet, dass es überhaupt eine Krise gibt." Danach habe sich Zapatero darauf verlegt, das baldige Ende der Krise zu verkünden. Inzwischen hat der Regierungschef ein Glaubwürdigkeitsproblem: Denn die Krise dauert sehr wohl an. Entgegen der Beteuerungen, die Krise werde nicht zu Lasten der Schwachen gehen, sind nun die Einschnitte im Sozialsystem spürbar.

Witte geht davon aus, dass die Sozialistische Partei Zapateros, die PSOE, einen Denkzettel an den Wahlurnen erhält. Die andere große Fraktion, die konservative Partido Popular, wird ihre übliche Klientel mobilisieren können. Witte hält es nicht für wahrscheinlich, dass sich viele dem Slogan der Demonstranten nach Wahlboykott anschließen werden. Unterdessen ist auf den spanischen Straßen der Unmut über die Banker groß, aber genauso gegen die Regierung und die Opposition.

Zeitvertreib mit Zeitunglesen, Impression von den Demos in Madrid (Foto: AP)
Zeitvertreib mit ZeitunglesenBild: AP

Beobachter werten das als ein Zeichen dafür, dass das Zweiparteiensystem überholt ist, das seit Ende der Diktatur in den 1970er-Jahren besteht. "Es hat sich jetzt ein sehr eigenartiges System von zwei großen nationalen Parteien entwickelt, die sich gegenüberstehen und dazu noch ein paar Regionalparteien", sagt Witte. Entscheidend seien aber die nationalistischen Parteien, die die Rolle von Mehrheitsbeschaffern für die beiden großen Parteien spielen. In anderen politischen Systemen würden diese eine dritte oder vierte Kraft spielen. So habe sich aber beispielsweise keine grüne Partei entwickeln können. "Gleichzeitig erweist sich der politische Schlagabtausch von Konservativen und PSOE als nicht sonderlich hilfreich, die großen Probleme des Landes zu lösen", meint Witte.

Lange Zwei-Parteien-Tradition

Nach dem Tod des spanischen Diktators Francisco Franco 1975 fürchtete man in Europa vor allem die Macht der Kommunistischen Partei Spaniens. Die deutschen Sozialdemokraten und ihr nahe stehende Organisationen wie die Friedrich-Ebert-Stiftung haben seinerzeit viel in die Gestaltung des Sozialdemokratie auf der iberischen Halbinsel investiert. Am Ende blieb zwischen Konservativen und der PSOE kaum mehr Platz für weitere Parteien. "Ich denke schon, dass der spanische Übergang zur Demokratie insgesamt eine Erfolgsgeschichte ist", meint Witte. Das Ganze sei ungefähr 35 Jahre her. "Da möchte ich jetzt nicht darüber spekulieren, was hätte passieren können, wenn man hier oder da etwas Anderes gemacht hätte."

Internet zum Debattieren und Organisieren

Eine Öffnung des spanischen Parteiensystems für andere politische Formationen würde Witte begrüßen. Auch die Demonstranten verlangen den Wandel. Doch Witte geht nicht von tiefen Veränderungen in der unmittelbaren Zukunft Spaniens aus. Er geht davon aus, dass in den kommenden Monaten das Parteiengezänk die Diskussion über tiefgreifende Veränderungen im demokratischen System, wie sie die Demonstranten auf den Straßen fordern, überschattet.

Gegner des umstrittenen Bahnprojekts "Stuttgart 21" blockieren am Dienstag (02.11.10) in Stuttgart die Baustelle fuer das Grundwassermanagment des Bahnprojekts. (Foto: dapd)
Gegner des umstrittenen Bahnprojekts "Stuttgart 21"Bild: dapd

Doch der Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass es ein Fehler wäre, die Entschlossenheit der Demonstranten zu unterschätzen. Beispiel Island: In dem krisengeschüttelten Land stürzte die Regierung über den Druck der Straße. In Deutschland hielt der Widerstand gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" ein Bundesland monatelang in Atem.

Was Spanien mit Stuttgart zu tun hat…

Auch für die Bewegung 15-M ist das Internet ein Grundpfeiler. Bei Twitter und Facebook sind die Proteste so lebendig wie auf der Straße: Es wird kommentiert, informiert und zu Demos aufgerufen - mittlerweile weltweit. "Wenn es um formale Entscheidungsprozesse geht, sollte man das Internet nicht überbetonen. Aber wenn es darum geht, außerhalb der normalen Institutionen und Hierarchien vor allem eine Koordination von Kampagnen zu organisieren, dann hat es eine außerordentliche Wirkungskraft", sagt Lars Holtkamp, Politik- und Managementprofessor an der Fernuniversität Hagen.

Das Phänomen der Internetrevolten mit den Studentenrevolten der 1968er-Jahre zu vergleichen - so weit würde Holtkamp nicht gehen: "Ich würde jetzt nicht von so einer ganz großen Veränderungswelle reden, wie beispielsweise der 68er Bewegung. Es gibt eben einerseits lokale Konflikte, die erhebliche Probleme bringen und zu Protesten führen, aber natürlich eben mit Stuttgart 21 in einer kaum dagewesenen Form", verweist Holtkamp.

Trotzdem verbindet Deutsche und Spanier noch ein weiteres Details: Die Internetseite, www.spanishrevolution.eu, die Videos über die Proteste in Spanien verbreitet, wird von Stuttgart aus betrieben.

Autorin: Luna Bolívar Manaut/ Violeta Campos

Redaktion: Birgit Görtz