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Erlebnisse eines Kulturbotschafters

21. September 2011

Europa möchte in der Welt punkten, auch mit Kultur. Die Deutsche Welle organisiert Diskussionsveranstaltungen dazu. Und Autor Moritz Rinke berichtet über seine Jahre als Kulturbotschafter des Goethe-Instituts.

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Menschen auf dem Time Square in Manhattan (Foto: Tom Koene)
Bild: picture-alliance/Ton Koene

Was ein Schriftsteller erleben kann, der die ganze Welt bereist und dabei zum Kulturbotschafter Deutschlands wird, weiß kaum jemand so gut wie der Berliner Autor Moritz Rinke. Seit Jahren ist er immer wieder unterwegs und hat dabei überraschende, irritierende, witzige Begegnungen festgehalten: Fünf Feuilletons aus zehn Jahren - als Serie bei DW-WORLD.DE

New York, 2008

New York, Perry Street, Ecke Waverly Place in Greenwich Village, "Café Doma". In der Wohnung am Hudson-River kann ich mich nicht konzentrieren, über mir ist der Ballettsaal der Merce-Cunningham-Company. Ich dachte immer, Merce Cunningham stehe für minimalistische Tanzkonzepte, trotzdem wackelte mein ganzes Zimmer.

Das Café Doma habe ich mir ausgesucht, weil hier angeblich manchmal Nicole Kidman einen Drehbuchautor trifft. Momentan sitzen hier aber ungefähr zwanzig Drehbuchautoren. Sie haben alle Stöpsel in den Ohren und schreiben amerikanische Serien. Woher ich das weiß? Ich höre das. Eben hat jemand neben mir gesagt "You look pretty fucked", er meinte aber nicht mich, sondern er sagte es so mehrmals vor sich hin, ich kenne das, ich sage auch oft Sätze beim Schreiben vor mich hin, aber nicht in der Öffentlichkeit "you look pretty fucked".

Moritz Rinke (Foto: dpa)
Moritz RinkeBild: picture-alliance/ ZB

Das Café Doma ist auch sehr klein und hat winzige runde Tische, an denen die Autoren sitzen, manche sogar Schulter an Schulter und face to face, da könnte so man so einen Satz schon mal falsch verstehen, wenn man nicht wüsste, dass hier an amerikanischen Serien gearbeitet wird. Vor mir sitzt ein Autor, dem ich genau auf den Bildschirm sehe. Er hat bisher nur einen Satz auf der Seite, er wird gesagt von einem Donald und lautet: "I am prosexual". Offen gestanden weiß ich gar nicht, was das ist, "Google" meint: m-bi, m-schwul, m-hetero, trans-m oder w-bi, w-lesbisch, w-hetero, trans-w, Donald ist das wohl alles zusammen.

Verliebt in Obama statt Angst vor dem Crash

Es gibt auch Drehbuchautorinnen. Sie piepsen alle leise vor sich hin, die eine knöpft sogar jede Viertelstunde einen weiteren Knopf ihrer Bluse auf. Der Autor mit dem Satz "I am prosexual" ist eben aufgestanden und in meinem Computerkabel hängen geblieben, er hat sich freundlich entschuldigt und gefragt, ob mir wichtige Daten verloren gegangen seien. Am liebsten hätte ich geantwortet, wenn ich keine Kolumne schreiben würde, sondern auch so eine Serie wie er, dann hätte ich ja Daten von ihm nehmen können. In Amerika hatte ich offen gestanden mit Drehbuch-Sätzen wie "I am bankrupt" gerechnet oder "We all go bankrupt", auf jeden Fall etwas über die Immobilienkrise, immerhin die größte Finanzkrise seit der Weltwirtschaftskrise 1929.

Die Autorin mit den Blusenknöpfen schreibt gar kein Drehbuch, sondern liest Obama-News, das habe ich eben vom Bartresen aus gesehen, auch die anderen Autorinnen lesen Obama-News oder gucken Obama auf You-Tube. Gestern habe ich die ungarische Fernseh-Korrespondentin getroffen, sie sei in Obama verliebt und habe Angst, dass sie ihm während einer Live-Schaltung nach Budapest plötzlich ihre Liebe gesteht. Als ich mich gestern beim Merce-Cunningham-Company erkundigen wollte, was denn mit dem Minimalismus-Konzept sei, probten sie gerade ein Obama-Ballett, das nach den demokratischen Vorwahlen in Pennsylvania aufgeführt werden soll.

Prosexuell statt klimatisch interessiert

Frauen mit Regenschirmen bei Sturm in Manhattan (Foto: AP)
Sturm, Regen, Klimawandel? Obama!Bild: dapd

Vor zwei Tagen habe ich mit meinem Verleger einen amerikanischen Autor getroffen, Jonathan Safran Foer, auch Obama-Fan. Er hat sogar für Obama Geld gesammelt. Obama hat im März 40 Millionen Spenden bekommen, eine halbe Million davon haben amerikanische Autoren gesammelt. Toni Morrison, Tony Kushner, Jonathan Franzen, Jhumpa Lahiri, Nicole Krauss, die ganze Liga. Das muss man sich mal in Deutschland vorstellen, ich male mir schon aus, wie Michael Kumpfmüller, Feridun Zaimoglu, Jenny Erpenbeck und ich für Steinmeier sammeln, was da los wäre!

"I would like to ask you something about the real estate crisis", sagte ich zum amerikanischen Autor, aber dann ging er noch mal mit meinem Verleger die letzte 37minütige Obama-Rede durch. Die amerikanische Immobilienkrise ist nur bei uns ein Thema. Die Deutschen sind hysterisch und die Amerikaner beschäftigen sich mit Obama oder Prosexuellem oder so etwas ähnlichem, so ist die Lage.

In New York war vorgestern Sturm mit Wolkenbrüchen, 20 Grad. Gestern 0 Grad mit Hagel. Heute Nebel, so stark als stünde wieder der Staub von 9/11 zwischen den Häuserschluchten. Die Klimakatastrophe ist aber auch kein Thema. Gerade ist einer der Drehbuchautoren vor die Tür gegangen und macht Klimmzüge an der Fußgängerampel. Ich gehe jetzt zurück in die Wohnung am Hudson-River. Das Obama-Ballett geht normalerweise immer um fünf nach Hause.

Autor: Moritz Rinke
Redaktion: Marlis Schaum / Aya Bach