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Rio, eine zerrissene Stadt

Titus Chalk12. Juni 2014

Normalerweise könnte Rio de Janeiro einfach nur ein fußballverrückter Ort sei. Doch die Fußball-Weltmeisterschaft entzweit die Bewohner der brasilianischen Metropole.

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WM-Fanartikel vor Protest-Grafitti. Foto: DW/T.Chalk
Bild: DW/Titus Chalks

Rio ist gespalten. Wenig überraschend. Dieser Realität gewordene Pinselstrich einer Stadt, verteilt über eine der schönsten Landschaften der Erde, ist ohnehin ein Ort atemberaubender Kontraste. Hier Sandstrände, dort schwindelerregende Gipfel. Hier schimmernde Wolkenkratzer, dort verkommene Favelas. Hier manische Energie, dort gelangweiltes Leben. Aber wenn etwas die Carioca-Seele zerreißt, dann ist es die Weltmeisterschaft, die an diesem Donnerstag in Sao Paulo beginnt.

Bisher ist die Stimmung gedämpft. Die Menschen in Rio müssen ihr normales Leben bewältigen, da es ist verständlich, dass es in erster Linie die Gästefans sind, die Party machen wollen. Rede mit den Einheimischen und du stellst fest, dass sich die Geister an der Frage scheiden, ob die Ausrichtung der Weltmeisterschaft - zu einem Preis von elf Milliarden Euro - eine gute Sache ist oder nicht.

Man muss gar nicht viel Portugiesisch sprechen, um die Menschen zu verstehen, wenn sie über das bevorstehende Mega-Event diskutieren: wie sie das imaginäre Geld zwischen den Fingern reiben und so tun, als gäben sie es unter dem Tisch weiter. Die Weltmeisterschaft wird hier mit Korruption innerhalb der Institutionen verbunden, und mit einer Elite, die Geld unterschlägt.

Titus Chalk. Foto: DW/T. Chalk
WM-Reporter Titus ChalkBild: DW

Normal arbeitende Brasilianer (geschweige denn diejenigen, die sich in den Favelas abstrampeln) kommen kaum über die Runden. Viele fürchten sich sogar vor einem brasilianischen WM-Sieg: Die darauf folgende Euphorie würde die Wiederwahl von Dilma Rousseff als Präsidentin sichern und das Überleben eines Systems verlängern, das öffentliche Gelder während der WM-Vorbereitung wohl oder übel in private Hände gelegt hat.

Als relativ junge Demokratie verfügte Brasilien nicht immer über eine Zivilgesellschaft, die in der Lage war, ihre politischen Führer zur Rechenschaft zu ziehen. Das war auch der Grund, warum die Politiker von den Massenprotesten im vergangenen Sommer so schockiert waren. Das althergebrachte Opium des Fußballs (mit ein wenig Samba garniert) reichte plötzlich nicht mehr aus, um die Empörung der Öffentlichkeit in Grenzen zu halten. Die Menschen waren es leid, in einem Land bevormundet zu werden, das magere 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Infrastruktur ausgibt, halb so viel wie im Durchschnitt weltweit. Sie werden wieder protestieren, geplant sind Aktionen direkt neben dem FIFA-Fan-Fest an der Copacabana, gleich am ersten Tag des Turniers.

Dass die Demonstrationen für den Nachmittag angesetzt sind, zeigt, wie innerlich zerrissen die Menschen hier sind. Selbst die zornigsten Demonstranten können rechtzeitig zum Höhepunkt des Tages fertig werden: dem Anstoß des Eröffnungsspiels Brasilien gegen Kroatien.

Protest-Graffiti in Rio. Foto: DW/T. Chalk
Protest-Graffiti: WM für wen?Bild: DW/Titus Chalks