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Politik

"Risiko eines Suizids in U-Haft sehr hoch"

Sabrina Pabst
14. Oktober 2016

Der Selbstmord des Terrorverdächtigen Al-Bakr wirft Fragen auf. Wie konnte er sich unter den Augen der Justizbeamten umbringen? Kontrolle allein reicht nicht, sagt Suizidexperte Johannes Lohner im DW-Interview.

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Gefangener im Gefängnis Symbolbild Haft
Bild: picture alliance / dpa

Deutsche Welle: Welche Möglichkeiten haben Justizbeamte in Gefängnissen, einen Häftling unterzubringen, von dem sie wissen, dass er suizidgefährdet ist?

Johannes Lohner: Die höchste Stufe der Sicherheit wäre eine Fixierung des Gefangenen. Das dürfen die Beamten selbstverständlich nur nach ärztlicher Anordnung. Eine Methode wäre die Zweipunkt-Fixierung, bei der ein Arm und ein Fuß am Boden festgeschnallt werden, während der Gefangene auf einer Matratze in einem total kahlen Raum liegt - möglicherweise über Stunden. Sie können sich vorstellen, was diese Maßnahme für denjenigen bedeutet.

Das wird nur in Phasen angeordnet, wenn sich jemand akut in einem extremen Ausnahmezustand befindet, in der Akut-Psychiatrie. Diese Fixierung geht aber nur mit einer Sitzwache. Es muss eine Person körperlich anwesend sein, die direkt neben der fixierten Person sitzt, um beispielsweise sofort intervenieren zu können, wenn der Fixierte erbricht und zu ersticken droht. Das wäre die höchste Stufe mit einem enorm hohen Aufwand und sehr belastend für alle Beteiligten.

Welche Möglichkeiten haben Justizbeamte, wenn es eine solche ärztliche Anordnung (noch) nicht gibt?

Eine Stufe drunter ist die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum. Der sieht deutschlandweit relativ ähnlich aus: Es ist ein Raum, der kameraüberwacht wird. Dort sind Toiletten, Waschbecken und alle anderen Gegenstände in der Wand eingelassen, damit sie nicht herausgerissen werden können. Damit der Gefangenen die nicht benutzen kann, um sich das Leben zu nehmen.

"Haft ist für jeden Menschen hart"

Der Inhaftierte hat nur eine Papierunterhose an, die zerreißen würde, falls er sich damit strangulieren will. Die Bettdecke kann man nicht entflammen oder zerreißen. Auch das Besteck ist aus Maisstärke und nicht aus Plastik. Denn falls das Plastikbesteck jemand schlucken würde, wäre das zwar nicht lebensgefährlich, aber er würde einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen. Jede größere JVA hat sowas.

Wie stellen die Beamten denn fest, ob der neu angekommene Häftling psychisch krank ist oder gar suizidgefährdet?

Es gibt eine Zugangsuntersuchung. Die richtet sich in erster Linie auf körperliche Einschränkungen und Krankheiten. Es wird auch untersucht, ob jemand akut unter Drogen steht. Wir haben in der Untersuchungshaft ein deutlich höheres Suizidrisiko, gerade in den ersten 24 bis 48 Stunden nach Inhaftierung. Wenn man sich die Statistiken anschaut, ist das Risiko zu Beginn ganz groß und sinkt dann rapide ab. Im Strafvollzug ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand das Leben nimmt, statistisch deutlich geringer.

Warum?

Wenn die Gefangenen erst einmal im Strafvollzug angekommen sind, haben Sie sich meist an die Situation gewöhnt, haben sich angepasst und den Schock über ihre Inhaftierung überwunden. Die Haft ist für jeden Menschen hart, das ist eine Schwellensituation. Der Inhaftierungsschock ist kein klarer psychischer Zustand, den man eindeutig beschreiben kann. Wenn jemand frisch ankommt, ist er den Beamten noch unbekannt. Sie kennen ihn nicht, sperren ihn ein und dann kommt unter Umständen raus, dass er schon oft in der Psychiatrie war oder mehrere Suizidversuche unternommen hat.

"Die Maßnahmen sind drakonisch"

Die Maßnahmen gegen Suizidgefährdete sind drakonisch. Wenn in der Nacht alle Viertelstunde die Deckenlampe angeht oder der Häftling fixiert auf dem Boden liegt, so kann das auch gesunde Menschen in eine Psychose treiben. Da wird jeder Mensch verrückt. Hinzukommt, dass das oft Stunden oder Tage lang so gemacht wird. Schlafentzug ist ein Foltermittel, das wissen wir spätestens seit Guantanamo. Bei dem Terrorverdächtigen von Belgien haben die Anwälte das Mandat niedergelegt, unter anderem weil die ständige Überwachung für ihren Mandanten unzumutbar war.

Wenn diese besonders gesicherte Zelle für Suizidgefährdete kameraüberwacht wird, wie ist dann überhaupt ein Selbstmord möglich?

Es ist eine Illusion zu glauben, dass bei der Kameraüberwachung ein Beamter die ganze Zeit über acht Stunden vor dem Monitor sitzt. Das ist faktisch nicht der Fall. Die Häftlinge schlafen ja auch. Die Bildschirme laufen meistens in den Unterzentralen auf. Dort sind mehrere Monitore, weil vielleicht mehrere Zellen belegt sind. Dort erledigen die Beamten auch andere Arbeiten, wie beispielsweise die Briefkontrolle. Dabei schauen sie vielleicht immer mal wieder auf diesen Monitor. Es gibt auch Fälle von Suizid vor der Kamera, die die Beamten nicht mitbekommen haben.

"Ich muss eine Beziehung aufbauen"

Diese technischen Möglichkeiten stoßen an ihre Grenzen. Fixierungen oder Kameras, Zäune, Mauern, Detektoren und so weiter - das ist alles richtig und muss auch sein. Aber ohne soziale Sicherheit geht es nicht. Ich muss meine Leute kennen, sie beobachten, mit ihnen eine Beziehung aufbauen. Das ist dann eben schwierig oder unmöglich, wenn der Gefangenen frisch inhaftiert oder absolut nicht zur Zusammenarbeit bereit ist.

Wie sehen Sie den Aufklärungswillen der Behörde, nachdem ein Häftling sich das Leben genommen hat?

Wir haben eine Arbeitsgemeinschaft "Suizidprävention im Strafvollzug", die solche Fälle nicht nur juristisch aufarbeiten soll, sondern eben auch die Organisation hinterfragen. Das ist übrigens sehr wichtig für die Bediensteten, die sich oftmals Vorwürfe machen. Schnell entsteht ein Verdacht von außen, dass in der Anstalt etwas nicht sauber gelaufen ist. Die Leute geraten unter einen wahnsinnigen Druck. Mitzuerleben, dass sich ein Mensch das Leben nimmt, hinterlässt einen tiefen Eindruck. Eine seriöse Aufarbeitung ist sehr wichtig. Das läuft dann intern und das ist auch richtig so.

Johannes Lohner ist Professor an der Hochschule Landshut. Eines seiner Spezialgebiete ist Klinische Sozialarbeit. Er ist Mitherausgeber des Sammelbands "Frei Tod? Selbst Mord? Bilanz Suizid? Wenn Gefangene sich das Leben nehmen". Die Autoren erörtern Wege, Selbstmorden in Haftanstalten vorzubeugen und seelisch labile Häftlinge besser zu betreuen.

Das Interview führte Sabrina Pabst.