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Rudolf Seiters: "Die Einheit ist eine Erfolgsgeschichte"

1. Oktober 2010

Als damaliger Kanzleramtsminister war Rudolf Seiters maßgeblich an der Vorbereitung der deutschen Einheit beteiligt. Im Interview mit der Deutschen Welle zieht er eine nicht nur positive Bilanz.

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Rudolf Seiters (Foto: AP)
Rudolf SeitersBild: AP

Deutsche Welle: Welche Erinnerungen haben Sie an den 3. Oktober 1990?

Rudolf Seiters: Wir hatten in der Nacht zuvor im Bundeshaus in Berlin übernachtet und haben uns vorbereitet auf diese wunderbare Vereinigungsfeier vor dem Westportal des Reichstages. Damals wie heute gehen einem viele Gedanken durch den Kopf. Ich dachte an meine wochenlangen Verhandlungen um die Ausreisefreiheit für die Botschaftsflüchtlinge, an die Szene mit Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, an meine Ansprache im Deutschen Bundestag beim Fall der Mauer, als Helmut Kohl in Warschau war und dann an die unglaublich wichtige Rede von Helmut Kohl vor der Frauenkirche in Dresden.

Im Grunde - auch im Nachhinein - kann ich sagen, wir waren allesamt an diesem Tage erfüllt von einer großen Dankbarkeit und geschlafen haben wir eigentlich fast gar nicht.

Was waren die größten Schwierigkeiten auf dem Weg zur deutschen Einheit?

Wir hatten ein gutes gesamteuropäisches Umfeld, wenn ich an die Reformversuche in Polen und Ungarn denke und auch an die Politik von Gorbatschow mit "Glasnost und Perestroika" ("Transparenz und Umgestaltung"). Es kamen die Massenfluchten und das Chaos im Politbüro hinzu. Es ging damals um eine sehr behutsame Steuerung eines Prozesses, der ja nicht nur in Moskau, sondern auch in den westeuropäischen Ländern durchaus Besorgnisse und Ängste ausgelöst hatte. Es war ja nicht so, dass die bevorstehende Wiedervereinigung bei unseren Partnern mit großer Freude gesehen wurde.

Giulio Andreotti (italienischer Ministerpräsident von 1989 bis 1992) hat damals gesagt, wir lieben Deutschland so sehr, dass wir am liebsten zwei davon haben. Der Widerstand von Margaret Thatcher (britische Premierministerin von 1979 bis 1990) ist auch bekannt. Es ging also darum, um Vertrauen zu werben, dass ein wiedervereinigtes Deutschland die Koordinaten seiner Politik nicht verändert, sondern europäisch ausgerichtet ist und ein gutes Verhältnis mit Russland anstrebt.

Welche Fehler wurden im Rückblick beim Einheitsprozess gemacht?

Wir standen vor gigantischen Herausforderungen: Die Umwandlung einer über 40 Jahre gewachsenen sozialistischen, zentralistischen, planwirtschaftlichen Kommandowirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft. Und es musste schnell gehen, weil die Menschen in der DDR die Einheit schnell wollten. Vor diesem Hintergrund sage ich, die Grundentscheidungen, die wir damals getroffen haben, waren allesamt richtig.

Aber einiges blieb ungelöst: Die Frage der Enteignungen oder das Verhältnis von Opfern und Tätern. Einiges musste nachgebessert werden beim Thema Rückgabe oder Entschädigung oder bei der Arbeit der Treuhand (Bundeseinrichtung, die DDR-Betriebe privatisieren oder stilllegen sollte). Und dann kann man natürlich auch darüber reden, was in der Folgezeit in der Wirtschafts- Finanz-, und Arbeitsmarktpolitik des Bundes richtig oder falsch gemacht wurde.

Da hat es auch Fehlentwicklungen gegeben und es ist zudem eine unterschiedliche Politik in den neuen Ländern betrieben worden. Mit dem Ergebnis, dass beispielsweise in Sachsen und in Thüringen die Entwicklung weiter ist als in manchen anderen Ländern. Aber ich bleibe mit dem heutigen Bundestagspräsidenten dabei: Die deutsche Einheit ist eine Erfolgsgeschichte.

Wie lange wird es noch dauern, bis man den Unterschied zwischen Ost und West nicht mehr merkt?

Es gibt Spekulationen genauso wie Nostalgie und es gibt auch manche, die meinen, die Errungenschaften der DDR seien damals nicht ausreichend gewürdigt worden. Es ist also noch einiges in den Köpfen vorhanden, was geändert werden sollte. Das ist sicher auch eine Frage einer weiteren Generation.

Aber für mich ist das Ergebnis einer Umfrage in der letzten Zeit am schönsten. Junge Leute wurden gefragt, seht ihr Euch als Westdeutsche, als Ostdeutsche oder als Deutsche? Und da haben, glaube ich, 93 Prozent gesagt, wir sehen uns als Deutsche. Und das ist ein sehr, sehr gutes und hoffnungsvolles Zeichen.

Rudolf Seiters war von 1989 bis 1991 Bundesminister im Kanzleramt und von 1991 bis 1993 Bundesinnenminister. Seit 2003 ist er Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.

Interview: Matthias von Hellfeld

Redaktion: Dеnnis Stutе