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Hinter Potemkins Fassaden

19. Oktober 2010

Bei seinem Besuch im russischen Twer seien Christian Wulff nur schöne Fassaden präsentiert worden, sagen die Einwohner der Stadt. Die Realität in der russischen Provinz sehe ganz anders aus, als sie scheine.

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Bundespräsident Christian Wulff in Twer (Foto: DW)
Bundespräsident Christian Wulff sah nur die schöne Seite der StadtBild: DW

Schon seit den 1990er Jahren pflegt Osnabrück, die Heimatstadt des Bundespräsidenten Christian Wulff, eine Partnerschaft mit Twer. Die Stadt mit etwa 400.000 Einwohnern nordwestlich von Moskau bereitete sich auf den hohen Besuch lange vor. Straßen wurden gereinigt und die Route der Wagenkolonne von Christian Wulff penibel geplant. In der städtischen Gorky-Bibliothek wurde der Boden gründlich geschrubbt. "Hier wurde alles auf den Kopf gestellt", sagte eine Bibliothekarin. Am 13. Oktober war es dann soweit. Gegen Mittag fanden dort die Verhandlungen der russischen und deutschen Delegationen statt.

Einwohner äußern Unmut

Treffen von Bundespräsident Christian Wulff im Krisenzentrum des Katastrophenschutzes in Twer (Foto: DW)
Das Krisenzentrum kümmert sich nicht um alltägliche KatastrophenBild: DW

Christian Wulff war zuvor mit dem von Siemens gelieferten Hochgeschwindigkeitszug "Sapsan", der zwischen Moskau und St. Petersburg verkehrt, in Twer eingetroffen. Der Bahnhofsvorplatz und anliegende Straßen seien seit dem frühen Morgen gesperrt gewesen, berichtete ein unzufriedener Taxifahrer. "Die Milizionäre, die aus der gesamten Region zusammengezogen worden sind, haben uns alle vom Bahnhofsvorplatz vertrieben", beklagte er.

Unmut wurde auch nach Wulffs Besuch im Krisenzentrum des russischen Ministeriums für Katastrophenschutz in Twer laut. Eine aufgebrachte Frau sagte, wenn sich die Herren über Katastrophen unterhalten wollten, sollten sie die 30.000 Einwohner Twers besuchen, bei denen die Heizung und Warmwasserversorgung abgestellt seien. "Bei uns herrschen nämlich 10 Grad, und meine Kinder frieren und sind ständig krank", beschwerte sich die Frau. "Dem Bundespräsidenten werden nur schöne Fassaden gezeigt, aber eigentlich ist es ein Land, aus dem man fliehen will", fügte sie hinzu.

"Nur ein müdes Lächeln"

Voller Bewunderung sprach Christian Wulff beispielsweise von dem neuen Hochgeschwindigkeitszug "Sapsan". Die anwesenden Journalisten reagierten aber nur mit einem müden Lächeln darauf, denn die Tickets für den "Sapsan"-Zug sind für die meisten Einwohner von Twer gar nicht erschwinglich. Das Gleiche gilt für die Zimmer des Luxushotels "Osnabrück", das deutsche Investoren in der russischen Partnerstadt gebaut haben.

Vom Führerstand aus verfolgt Bundespräsident Christian Wulff am 13.10.2010 in einem Hochgeschwindigkeitszug vom Typ "Sapsan" die Fahrt von Moskau nach Twer (Foto: dpa)
Reisen im Hochgeschwindigkeitszug nur für PrivilegierteBild: picture-alliance/dpa

Überhaupt existiert die Städtepartnerschaft, bis auf einige wenige Ausnahmen, nur auf dem Papier, meint die Journalistin der Zeitung "Twerskaja Schisn", Julia Owsjannikowa: "Einen großen Kulturaustausch gibt es nicht. Die Partnerschaft besteht hauptsächlich daraus, dass Beamte und Geschäftsleute aus Twer Ausflüge nach Osnabrück unternehmen", sagte sie.

Mehr Nähe zum Volk erwünscht

Der Besuch des Bundespräsidenten verlief ohne Zwischenfälle - ganz im Sinne der Gastgeber. "Es lief alles nach Plan", sagte Owsjannikowa. Es sei naiv zu glauben, die russische Regierung würde Treffen mit einfachen Einwohnern Twers ins Programm aufnehmen. "Klar, dass die föderalen und erst recht die lokalen Behörden in Russland immer Vorzeigeobjekte präsentieren werden", so Owsjannikowa.

Von Christian Wulff hätte sich die Journalistin mehr Initiative erhofft. "Es wäre wünschenswert, dass deutsche Vertreter auch mal informelle Gespräche führen, was ja eine normale europäische Herangehensweise ist", erläuterte sie. Eine offene Gesellschaft setze den Umgang mit unterschiedlichsten Menschen voraus. "Ein Gespräch auf der Straße bringt oft mehr, als nur ein Briefing", betonte die Journalistin.

Autoren: Sergej Morosow, Artjom Maksimenko
Redaktion: Markian Ostaptschuk / Fabian Schmidt