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Politik

"Syrer haben das falsche Ziel getroffen"

Roman Goncharenko
5. April 2017

Der ehemalige Experte beim Moskauer Carnegie-Zentrum, Alexej Malaschenko, kritisiert im DW-Interview sowohl die westliche als auch die russische Darstellung des Giftgas-Vorfalls in Syrien.

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Syrien Idlib Giftgas Angriff
Unter den Opfern des mutmaßlichen Giftgas-Angriffs in der Stadt Chan Scheichun sind zahlreiche KinderBild: picture alliance/dpa/M.Karkas

DW: Westliche Staaten und Medien werfen der syrischen Armee den Einsatz von chemischen Waffen in der Provinz Idlib vor. Man geht von mehr als 70 Toten aus. Die russische Armee teilte mit, die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad hätten ein Depot der Oppositionellen mit chemischen Waffen getroffen. Wessen Argumente klingen für Sie überzeugender? 

Alexej Malaschenko: Ich glaube, dass beide Seiten übertreiben. Als eine Art Rechtfertigung für Russland und auch für Assad kann ich nur fragen: Wozu brauchen sie das? Wozu sollen sie sich so die Hände schmutzig gemacht haben, wenn man bedenkt, dass es inzwischen mehr als 70 Opfer gibt? Ich kann diese Annahme nicht ganz nachvollziehen. Eine andere - diesmal russische - Erklärung ist, dass es irgendein Depot war, das oppositionelle Kämpfer verlassen hätten. Da soll Gas explodiert sein, Sarin oder etwas anderes. Unklar ist, warum dieses Depot der Aufklärung unbekannt war und nicht entschärft wurde. Das Gas konnte in solchen Mengen nicht plötzlich auftauchen, jemand hat es da gelassen. Wer ist hier schuld: Die Kämpfer, die es dort gelassen haben? Ja, aber auch diejenigen, die es nicht gefunden haben, also die syrische Regierung.

Russland Alexej Malaschenko
Alexej Malaschenko nimmt an, dass die syrische Armee aus Versehen auf die chemischen Waffen am Boden geschossen hatBild: Carnegie Moscow Center

Zu welcher Interpretation tendieren Sie?

Es ist Krieg. Die Syrer haben geschossen, aber das falsche Ziel getroffen. Ja, geschossen wurde von dieser Seite (der Regierungstruppen - Red.), doch das war keine Absicht sondern ein Fehler. Wenn meine Annahme stimmt, müsste man sich entschuldigen und den Fehler zugeben. In einem Krieg werden auch manchmal Flugzeuge fälschlich abgeschossen. Dieser tragische Moment ist ein Anlass, ehrlich zu sagen, was wirklich passiert ist und nicht, sich gegenseitig zu beschuldigen.

Sie glauben also, dass chemische Waffen am Boden waren - auf der Seite der Assad-Gegner?  

Ja, sie waren da und wurden getroffen. Das ist meine Annahme.

Es hieß ja, die chemischen Waffen der syrischen Armee seien nach 2013 unter internationaler Aufsicht zerstört worden. Wenn man annimmt, dass doch Assads Armee jetzt Giftgas eingesetzt hat, woher hat sie es?

Es ist unmöglich, alle Waffen zu vernichten, besonders in einem so schwer kontrollierbaren Land wie Syrien. Es ist eine Illusion zu glauben, dass solche autoritären Regime alles kontrollieren. Jemand kann etwas liegengelassen haben, jemand kann damit gehandelt haben. Man hätte alles tun sollen, um alles einzusammeln.

Man hätte das machen sollen, was US-Präsident Obama vorgeschlagen hatte: Eine rote Linie gegen den Einsatz von chemischen Waffen ziehen. Es ist in der Tat unsere gemeinsame Sache. Es ist sehr traurig, dass daraus ein Skandal geworden ist. Eine solche Tragödie ist aus meiner Sicht im Gegenteil ein Anlass, um sich näher zu kommen, eine Einigung zu erzielen und eigene Fehler zuzugeben. Washington hat ja neulich gesagt, man verfolge nicht mehr so wie früher die Absetzung von Assad. Vor diesem Hintergrund: Warum hätte Assad das alles machen sollen? Deshalb gibt es derzeit mehr Fragen als Antworten.

Woher hätte die Opposition chemische Waffen bekommen können?

Dort herrscht Bürgerkrieg, es gibt genug Möglichkeiten. Wenn so etwas beginnt, können alle Waffen, auch die schlimmsten, nicht völlig unter Kontrolle sein. Man kann kaufen und verkaufen. Und Gott behüte, die Waffen würden ins Ausland geraten. Auch das ist möglich. 

Sie haben eine "rote Linie" erwähnt. Der Westen könnte darauf antworten: Wir versuchen ja, eine solche Linie im UN-Sicherheitsrat zu ziehen, scheitern aber immer wieder am Veto Russlands und Chinas, wie zuletzt Ende Februar. Wie soll es dann klappen?

Ich bin kein Völkerrechtler und verstehe die russische Haltung nicht immer. Wenn man ehrlich spielt und tatsächlich gegen diese chemischen Waffen ist, vielleicht hätte man diese Resolution nachjustieren können. Dort gab es Elemente, die nicht so sehr gegen Russland, sondern gegen Assad gerichtet waren. Das dürfte so bleiben, auch wenn die USA jetzt eine weniger harte Haltung haben. 

Alexej Malaschenko, Jahrgang 1951, ist russischer Historiker, Publizist und ehemaliger Experte beim Moskauer Carnegie-Zentrum. Seine Schwerpunkte sind Islamwissenschaft, Gesellschaft und Sicherheitspolitik.

Das Interview führte Roman Goncharenko.