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Russland: Gastarbeiter-Problematik als Roman

19. Juli 2007

Ein literarisches Erstlingswerk sorgt seit kurzem in Moskau für Gesprächsstoff: Es ist ein Roman mit dem Titel "Gastarbeiter" – die zahlreichen Zuwanderer sind in Russland zwar unwillkommen, aber dringend notwendig.

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Bild: bilderbox

Eduard Bagirow stammt aus Turkmenistan, seine Mutter ist Russin, der Vater Aserbaidschaner. Mit 21 kam er nach Moskau, jobbte dort als Transportarbeiter, als Kleinhändler, in einem Club, im Immobiliengeschäft und auch in der Grauzone des halblegalen Business. Er weiß, was es bedeutet, diskriminiert zu werden, keine Wohnung zu finden, sich durchzuschlagen. Von all dem ist in seinem vor kurzem erschienenen Buch "Gastarbeiter" die Rede. Autor Bagirow sagt: "80 Prozent darin sind meine eigene Biographie, und zu 20 Prozent setzt sich der Romanheld zusammen aus Erfahrungen meiner Freunde und Bekannten. Das heißt, ich wusste sehr gut, worüber ich schreibe, ich musste mir nichts ausdenken."

Demographische Krise

Hinter der literarischen Schilderung verbirgt sich freilich ein vielfältiges und brisantes Problem:

Russland braucht Migranten, denn das Land erlebt seit Jahren schon drastisch sinkende Geburtenraten und eine regelrechte demographische Krise. Der Bevölkerungsschwund ist beträchtlich und wird mit etwa 700.000 Menschen jährlich beziffert. Wirtschaftliche Stagnation und Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind die Folgen. Experten schätzen, dass im Jahre 2050 nur 100 Millionen Menschen in Russland leben werden, 45 Millionen weniger als heute.

Über die Immigrantenzahlen liegen nur Schätzungen vor. Sie reichen von fünf bis 15 Millionen. Offenkundig aber ist die Russische Föderation immer noch attraktiv als Einwanderungsland für Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken – die russische Akademie der Wissenschaften spricht davon, dass offiziell etwa eine Million Ukrainer in Russland arbeiten, eine halbe Million Tadschiken, 400.000 Usbeken und etwa 300.000 Armenier. Die Zahl der illegal Eingewanderten dürfte um ein Vielfaches größer sein.

Fremdenhass nimmt zu

Überall in Moskau sieht man Menschen aus Zentralasien oder dem Kaukasus, die auf Baustellen schuften, in Imbissbuden, im Transportwesen. Gleichzeitig leben diese Immigranten im Schatten einer von starker Fremdenfeindschaft charakterisierten Gesellschaft: schlecht bezahlt, in billigen Quartieren, stigmatisiert und diskriminiert. Denn der Fremdenhass nimmt zu in Russland, brutale ausländerfeindliche Übergriffe werden aus Moskau, aus St. Petersburg, aber auch aus der Provinz gemeldet: Überfälle auf Straßen und in U-Bahnen und oft schauen Passanten gleichgültig zu. Menschen mit dunkler Hautfarbe – Kaukasier, Afrikaner, Asiaten, unter ihnen viele Studenten - stoßen in vielen Orten auf unverhüllten Rassismus, müssen mit Beleidigungen und Prügel rechnen. Es gab schon Todesopfer.

Ressentiments gegen Fremde

Das Moskauer Analysezentrum "Sowa" gibt an, dass in den ersten Monaten des laufenden Jahres schon 18 Menschen starben und 107 verletzt wurden. Als Ursachen nennt "Sowa" soziale und Bildungsprobleme sowie eine Empfänglichkeit insbesondere jüngerer Männer für rassistische Propaganda. Es gibt mittlerweile schätzungsweise 150 rechtsextreme Organisationen in Russland mit mehr als 50.000 Anhängern. "Amnesty International" sprach in einer Untersuchung von "blinder Gleichgültigkeit" und einer "potentiell tödlichen Toleranz" der russischen Gesellschaft gegenüber dem Phänomen des Rassismus.

Eine Umfrage des renommierten Lewada-Zentrums ergab eine tiefe Verwurzelung von Ressentiments gegen Fremde. So befürworteten weit über die Hälfte der Befragten Aufenthaltsverbote für Menschen aus dem Kaukasus und aus Zentralasien in ihrer Stadt. Ethnische Vorurteile grassieren. Man empört sich über reich gewordene Migranten, über kriminelle Gruppierungen, mafiöse Strukturen, Drogenhandel.

Das Verhalten von Polizei und Justiz wird als ambivalent beschrieben. Sehr oft werden die Verbrechen als harmloses "Rowdytum" beurteilt, die Sanktionen sind entsprechend milde. In den Medien wird kaum über die Vorfälle und ihre Hintergründe berichtet. Und immer wieder heißt es, dass neofaschistische Stimmung in Kreisen von Miliz und Polizei selbst weit verbreitet sei.

Ambivalente Maßnahmen

Der russische Staat hat das Problem erkannt und will die Arbeitsmigration steuern und kanalisieren. Auch Programme gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gibt es, zumindest auf dem Papier. Ein echtes Konzept ist freilich nicht erkennbar, im Gegenteil: Die vom Gesetzgeber oder den Behörden getroffenen Maßnahmen sind oft ineffektiv und ambivalent.

Der russische Bürgerrechtler Andrej Babuschkin erklärt: "Seit Beginn der 90er kündigt der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow immer wieder an, dass man die Zahl der Migranten in Moskau begrenzen müsste. Aber jedes Jahr werden Bedingungen geschaffen, die genau das Anwachsen der Migration befördern. Gerade das boomende Baugeschäft ist die Hauptquelle für Zuwanderung – ein Geschäft, das vom Bürgermeister selbst kontrolliert wird."

Ein weiteres Beispiel: Seit dem 1. April 2007 dürfen Ausländer in Russland nicht mehr im Einzelhandel tätig sein. Das trifft Aserbaidschaner, Georgier, Moldawier, Usbeken, die auf den offenen Märkten mit ihren Produkten handeln: Gemüse, Obst, Blumen. Einheimische Russen begrüßten das Gesetz, weil sich auf den Märkten manches am Rande der Legalität abspielte. Die Mehrzahl der Betroffenen freilich sieht ihre Lebensgrundlagen zerstört, muss russische Verkäufer einstellen und bezahlen oder ihr Geschäft ganz aufgeben. Und manch einer, der vor Jahren mit großen Hoffnungen nach Moskau emigriert ist, denkt nun daran, weiterzuwandern: nach Amerika. Nach Deutschland.

Cornelia Rabitz
DW-RADIO/Russisch, 18.7.2007, Fokus Ost-Südost