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Russland: Raketenverschrottung mit Nebenwirkungen

3. Mai 2007

Abrüstung gilt eigentlich als etwas Positives, aber sie kann auch negative Folgen haben: für Umwelt und Bewohner. Zumindest, wenn sie nicht sachgemäß durchgeführt wird, wie beispielsweise im russischen Perm.

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Bild: AP Graphics

In der russischen Stadt Perm werden sowjetische Interkontinentalraketen vom Typ RS 22 verschrottet, die auch "Skalpell" genannt werden. Das ganze passiert in der Nähe eines Wohngebiets. Die Dioxine, die dabei entstehen, ziehen in die Millionenstadt. Das ganze wird finanziert von den USA. Ein russisches Gericht hat entschieden, dass das Verschrotten in der Art, wie es bei Perm geschieht, gegen Gesetze verstößt. Die Fabrik macht trotzdem weiter.

Klagen über Gesundheitsbeschwerden

Die Rentnerin Ljudmila Jarulina steht in ihrer Küche und serviert Tee. Sie ist eine schlanke elegante Frau, trägt ihr weißes Haar kurz und enge schwarze Kleidung. In der linken Hand zerknüllt sie ein kariertes Stofftaschentuch: "Schon seit einigen Tagen liege ich nachts ständig wach. Meine Nase ist verstopft. Ich versuche zu lesen, muss mich aber dauernd schnäuzen. Morgens bekomme ich die Nase nur unter Schmerzen frei. Heute Nacht habe ich von 3 bis 7 Uhr wachgelegen." Schuld an ihren Atemwegsbeschwerden sei, so die Rentnerin, die Kirow-Fabrik. Die befindet sich nur wenige Kilometer entfernt von dem Wohngebiet, in dem Ljudmila Jarullina lebt, am Stadtrand von Perm. Dort werden Raketen verschrottet - und zwar werden sie einfach verbrannt. Umweltexperten meinen, dass dabei giftige Dioxine freigesetzt werden. Die Behörden streiten das ab.

Ljudmila Jarulina verschränkt die Arme vor dem Bauch und berichtet: "Ich war beim Allergologen, der hat alle möglichen Tests gemacht, aber bei mir keine Allergien gefunden. Er hat gesagt: 'Wahrscheinlich kommen Ihre Beschwerden von der chemieverseuchten Luft.' Wenn die Fabrikleitung meint, dass sie unschuldig ist, dann soll sie veröffentlichen, an welchen Tagen sie Raketen verbrannt hat. Ich würde die Termine mit meinen Anfällen vergleichen. Aber es gibt keinerlei Informationen."

Behörden hüllen sich in Schweigen

Die Demontage der Raketen geht auf Abrüstungsverträge zurück, die die Sowjetunion in den 1980er Jahren mit den USA abgeschlossen hat. Menschenrechtsaktivisten haben recherchiert, dass insgesamt mehr als 50 dieser bis zu 50 Tonnen schweren Kolosse bei Perm verbrannt werden sollen. Etwa die Hälfte soll schon vernichtet worden sein. Gesicherte Informationen sind das nicht. Die russischen Behörden hüllen sich in Schweigen. Sie verweisen auf das Militärgeheimnis. Nach Klagen von Anwohnern haben mehrere Permer Gerichte festgestellt, dass die Fabrik gegen geltendes russisches Recht verstößt. Denn sie hat keine Umweltgutachten und keine Genehmigung für die Abgabe von Umweltschadstoffen eingeholt. Beides ist in Russland gesetzlich vorgeschrieben. Die Fabrik macht trotz der Gerichtsurteile weiter.

In der Gebietsverwaltung von Perm sitzt der Beamte Michail Antonow am Kopf eines langen Tisches in seinem Büro. Er ist stellvertretender Gouverneur in der Region Perm und zuständig für Wirtschaftsfragen. Über die Gerichtsurteile will er nicht reden: "Im Kern kann man das Problem gar nicht juristisch lösen. Natürlich müssen wir alle rechtlichen Genehmigungen bekommen, keine Frage. Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt: die Wirtschaft. Als dieses Projekt vor einigen Jahren begann, befand sich die Rüstungsfabrik in einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Situation. Für sie ging es ums Überleben. Die Raketenverschrottung war damals vermutlich das einzige Projekt, das Geld brachte. Jetzt wollen die Verantwortlichen natürlich, dass sich ihre Investitionen amortisieren." Die Menschen in Perm müssten ausbaden, was ihnen die Sowjetunion in den 80er Jahren eingebrockt hätte - das sagt ein anderer Mitarbeiter der Gebietsverwaltung, der aber nicht genannt werden will.

Umweltschützer unter Druck

Der Umweltaktivist Roman Juschkow sitzt spät abends im Büro der Permer Kammer für Menschenrechte und telefoniert. Um seinen Hals baumelt ein Brustbeutel mit dem Porträt Che Guevaras. Juschkow kämpft seit Jahren gegen die Raketenverschrottung: "Die Angelegenheit mit den Raketen ist leider bezeichnend für das gesamte Leben in Russland. Gesetze werden bei uns nur dann befolgt, wenn das bestimmten Leuten nützt: Leuten aus Politik und Wirtschaft. Wir fordern, dass die gefährliche und gesetzwidrige Verschrottung sofort gestoppt wird. Es muss eine gemeinsame Kommission mit Beamten, Umweltexperten und Vertretern der Zivilgesellschaft geschaffen werden. Die Fabrik muss eine sichere Technologie anwenden und die Raketen nicht einfach verbrennen. Wenn das nicht möglich ist, muss sie zumindest in eine andere Gegend verlagert werden, weit weg von dem Wohngebiet."

Aufgrund solcher Forderungen wird Juschkow unter Druck gesetzt und als "amerikanischer Spion" verunglimpft. Juschkow findet das lächerlich, denn er hält die USA für mit verantwortlich: "Ich glaube, dass drei Seiten Schuld tragen: Die Amerikaner, die großen Verteidiger von Menschenrechten und Demokratie, die bewusst ein gesetzwidriges Programm finanzieren. Wir haben mehrfach nach Washington geschrieben, aber nie eine sachliche Antwort bekommen. Dann ist die Regierung in Moskau schuld, die dieses Abrüstungsprogramm umsetzt, obwohl sie weiß, dass das vorgeschriebene Umweltgutachten nicht erstellt wurde. Das ist ein Verbrechen. Und zuletzt unsere Beamten hier in Perm, die nach dieser Pfeife tanzen und denen nicht einmal in den Sinn kommt, dass sie die Bevölkerung hier schützen müssten vor so viel Willkür und riskanten Abenteuern."

Gesine Dornblüth
DW-RADIO, 19.4.2007, Fokus Ost-Südost